Sonntag, 22. Juni 2025

System bei Marx und Fichte.

                                  zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Kant hatte die metaphysischen Systeme des Rationalismus an ihrer Wurzel ausgerissen. Die Idee, aus gegebenen Begriffe ein System zu bauen, war seither in Misskredit.

Der Drang, nach geleisteter Kritik die aufgefundenen Rudera der Vernunft zu einem System wieder aufzubauen, hat er sich zunächst verkniffen. Doch nachdem Fichte daran gegangen war, in der Wissenschaftehre die Vernunft als System neu zu rechtfertigen, begann er in sei-nem Opus postumum seinerseits damit - ohne jedoch über mannigfaltige Anfänge je hinaus-zukommen. Immerhin hat er sich dazu durchgerungen, seinen Bemühungen mit Wissen-schaftslehre in einem vollständigen System aufgestellt einen abschließenden Namen zu ge-ben, in dem erkennbar ist, wem er den Anstoß dazu verdankte.

Doch konnte er ansetzen an den Resultaten der Kritik, die er selber geleistet hatte.

Hegel tat dann so, als habe es diese Kritik nie gegeben. Die Idee, nicht bloß die Vernunft, sondern die ganze Welt als ein  System aufzufassen, schien ihm der Rechtfertigung nicht zu bedürfen; wenn schon System, dann nur ein Ganz Großes. Und so setzte er die Welt als ein Großes Ganzes seinem Verfahren selbstverständlich voraus. 

Das erschien ihm als der entscheidende Vorzug von Schelling vor Fichte, und diesen wollte er widerlegen, indem er ihn überbot. Dahinter steckte wohl auch seine Beteiligung am soge-nannten Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus, dessen Titel nicht vom Au-tor,* sondern den Herausgebern im 20. Jahrhundert stammt.

*

Wirkliches Wissen beruht auf einer Anschauung. Aber Anschauung selbst gibt noch kein Wissen. Sie ist diffus, ephemer und undeutlich. Ihre Gestalten können nicht festgehalten werden und zerfließen in einander. Sie müssen identifiziert werden, um sie ja nach Absicht unterscheiden und planmäßig neu zuammensetzen -, schlicht: um mit ihnen operieren zu können.

Das dafür erdachte Werkzeug sind die Begriffe. Sie treten zur bloßen Anschauung hinzu, um sie in Erfahrung zu wenden. 

Nicht auf Begriffen, sondern auf Erfahrung beruht die Vernunft. Die englischen Sensuali-sten hatten Unruhe unter den rationalistischen Kontinentalen gestiftet, indem sie propagier-ten,  die Begriffe der Vernunft beruhten selber auf Erfahrungen, und auf sonst nichts.

David Hume hatte Kant gezeigt, dass das ausschlaggebende Kriterium aller Erfahrung, nämlich die Kausalität, nicht ihrerseits Erfahrungstatsache sein könne, sondern ihnen vor-ausgesetzt werden müsse. Seine Kritik legt frei, wie die angeschauten Bilder in der Vorstellung zu brauchbaren Figuren "bestimmt" weden, nämlich im Durchgang durch das, was er das Apriori nannte - zwölf Kategorien und zwei Anschauungsformen.

Wo wir die herhaben, ließ er absichtsvoll offen ("um zum Glauben Platz zu bekommen"), aber Fichte war noch nicht bereit, den Glauben in die wissenschaftliche Philosophie wieder einzuführen, aus der Kants ihn doch eben erst entfernt hatte.

Kurz gesagt, Fichte weist auch das Apriori der menschlichen Eindbildungskraft zu und sucht nach seinen Gründen - indem er auch hier alle Bestimmungen, die die Menschen in ihre  Anschauungen Schritt für Schritt hineingetragen haben, von ihnen wieder, abzieht bis nichts Abziehbares übrifbleib als der Akt des Bestimmens selbst.

Wenn die Vernunft gerechtfertigt sein soll, muss sie samt und sonders auf einem Grund beruhen, der alle folgenden Bestimmungen tragen konnte; mit andern Worten: Wenn sie Ein System ist.

Es kommt freilich auf den glückenden Versuch an. Die Wissenschaftslehre ist dieser Versuch. Dass die Vernunft System ist, durfte nicht vorausgesetzt, sondern analytisch aufgefunden werden. Das System wird erwiesen, wenn der Wiederafbau durch das hinzufügen der zuvor abgezogenen Bestimmungen gelingt. Indem nämlich die originären bildhaften Vorstellungen zu Begriffen allerest gefasst werden.

Das ist nicht einfach die Nacherzählung vom historischen Werden der Vernunft, wie es eben auf uns gekommen ist, sondern die Vergewisserung ihres Herkunftsgrunds und eo ipso Rechtfertigung ihres allgemeinen Geltungsanspruchs.

* 

Das war Hegel nicht genug. Nicht erst, dass dieses System noch unvollendet war, sondern die janze Richtung hat ihm nich jepasst. Schelling bot einen Ausweg, und zeitlebens hat er sich beschwert, dass Hegel ihm die Ideen geklaut und doch den Ruhm dafür davongetragen hätte. 

Schelling war weniger logisch-konstruktiv als intuitiv-mythisch veranlagt, und kam auf die ganz eigene Idee, dass man was von oben nach unten, auch von unten nach oben darstellen  könnte: Vom Fichte'schen Ich aufwärts zum spinozischen deus sive natura, und davon wieder abwärts. Das war ihm synthesis genug.  

Aber nicht Hegel. Wie seit Plotin alle Neuplatoniker, begann er am Sein, und leitete all des-sen Gestaltungen daraus her. Aus unbestimmtem Sein individuieren sich die Einzelbestim-mungen. Ei, wer bestimmt? Das Sein sich. Wie das Sein dazu kommt, bleibt in Plotins po-etischer Rhetorik ganz in der Schwebe; aufgefasst wurde es als "Überschießen", Emana-tion.

Bei Schelling las sich das so: Man müsse das Subjekt auch als Objekt fassen - nämlich die Wissenschaftslehre als umgekehrte Ethica more geometrica demonstrata. "Identitätsphi-losophie" nannte er das.**

Er heftete beide einfach an einander, und einem mythischen Nacherzähler mochte das rei-chen. Doch Hegel war ein spekulierender Räsonneur, dem reichte das nicht. Man dürfe Narrative (kennen Sie?) nicht einfach nebeneinander stellen, sondern als ein und dasselbe darstellen: Man müsse, so heißt es, wenn ich nicht irre, in der Vorrede zur Phänomenologie, das Objekt "auch als Subjekt fassen"!

Retour à la case départ: Wir haben den platonischen Dogmatismus des gesunden Men-schenverstands als fine fleur der dialektischen Spekulation. M. a. W., wahr ist das Wirkliche. Seit Hegel und bis heute ist der Systemgedanke in der deutshcen Philosophie verrufen. 

* 

Genug von Hegel. Marx hat zwar gestanden, von dem 'hergekommen' zu sein, es kömmt aber darauf an, dass er bei ihm nicht geblieben ist. Er ist gottlob über den hinausgegangen, indem er hinter ihn zurückgegriffen hat.

Ohne es zu wissen, denn Hegels Urheber Fichte hat er nachweislich gar nicht gekannt.

Zuerst: Das System, das Marx in seiner Kritik beschreibt, ist nicht 'die ganze Welt', nicht einmal die kapitalistische Wirtschaftsweise, sondern deren Theorie von sich selbst. Nicht wie sie ist, sondern wie sie von sich redet.

Nicht wie die Welt ist, sondern wie sie sich begreift. Die bürgerliche Welt ist unstrittig: Warentausch. Sie begreift ihn als Austausch gleicher Werte. Ihr eigentliches Wesen spricht sie aus als Wertgesetz.

Wenn aber das Wertgesetz gälte, wenn also alle Güter sich tauschten nach Maßgabe der in ihnen erhaltenen Arbeit - so hat Engels vor Marx erkannt -, dann könnte es Kapital gar nicht geben, denn das besteht darin, dass irgendeine Geldsumme getauscht wird gegen irgendeine Ware, die mehr Geld einbringt. Übervorteilung der einen würde auf dem Markt durch Extravorteile der andern aufgewogen, so dass ein Mehr wert nie und nirgends ent-stehen könnte.

Es gilt daher nicht, den Wert nach seinen Bestandteilen zu analysieren; das hat die Politische Ökonomie seit ihrem Entstehen durch semantische Subtilitäten um die Arbeit erfolglos ver-sucht; sondern die faktisch-historische Herkunft des Mehr werts bloßzulegen: Woher der Wert kommt, ergibt sich daraus eo ipso.

Worin liegt aber die Pointe? Das alles ist keine Folge einer Verschränkung von Begriffen, sondern des wirklichen Verhaltens wirklich tätiger Subjekte. Das ist der Grund des kriti-schen Marxschen Systems. Von Hegel trennt ihn dessen Selbstbewegung des Geistes und Umschlagen der Begriffe. Mit Fichte verbindet ihn das Auffinden des Grundes in der ab-sichtsvollen Tätigkeit historischer Menschen. Und anders ist gar kein Sinn ins historisch-Wirkliche hineinzufinden. Es ist der Sinn, der ein System zu einem solchen macht.

*) Verfasser war Hölderlin. Von Hegel ist wohl nur die Reinschrift - und evtl. ein Abschreibfehler. 
**) Jacobi hat Fichtes System einen umgekehrten Spinozismus genannt; aber in einem subtileren Sinn. 

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