Bamberger Dom aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik
Was den schon ausgebildeten
Menschen am ausdrückendsten charakterisiert, ist das geistige Auge und
der die innersten Regungen des Herzens abbildende Mund. Ich rede nicht
davon, dass das erstere durch die Muskeln, in denen es befestigt ist,
frei herumschwebt und sein Blick dahin, dorthin geworfen werden kann;
eine Beweglichkeit, die auch durch die aufrech-te Stellung des Menschen
erhöht, aber an sich mechanisch ist.
Ich mache darauf aufmerksam, dass das Auge nicht bloß ein toter, leidender Spiegel ist wie die Fläche des ruhenden Wassers, /
durch Kunst verfertigte Spiegel, oder das Tierauge. Es ist ein
mächtiges Organ, das selbsttäig die Gestalt im Raume umläuft, abreißt,
nachbildet; das selbsttätig die Figur, welche aus dem realen Marmor
hervorgehen oder auf die Lein-wand geworfen werden soll, vorzeichnet, ehe
der Meißel oder der Pinsel berührt ist; das selbsttätig für den
willkürlich entworfenen Begriff ein Bild erschafft. ... Daher,
je mehr geistige Selbsttätigkeit einer hat, desto geistreicher sein
Auge; je weniger, desto mehr bleibt es ihm ein trüber, mit einem
Nebelflore überzogemer Spiegel.
Der Mund, den die Natur
zum niedrigsten und selbstigsten Geschäfte, zur Ernährung be-stimmte,
wird durch Selbstbildung der Ausdruck aller gesellschaftlichen
Empfindungen, sowie er das Organ der Mitteilung ist. Wie das Individuum
oder, da hier von festen Teilen die Rede ist, die Rasse noch tierischer
und selbstsüchtiger ist, drängt er sich hervor; wie sie edler wird,
tritt er zurück unter den Bogen der denkenden Stirn.
Alles dies, das ganze
ausdrückende Gesicht ist, wie wir aus den Händen der Natur kommen,
nichts; es ist eine weiche, ineinander fließende Masse, in der man
höchstens finden kann, was aus ihr werden soll, und nur dadurch, dass
man seine eigene Bildung in der Vorstellung darauf überträgt, findet; -
und eben durch diesen Mangel an Vollendung ist der Mensch der Bildsamkeit fähig.
Dieses alles, nicht
einzeln, wie es durch den Philosophen zersplittert wird, sondern in
einer überraschenden und in einem Momente aufgefassten Verbindung, in
der es sich dem Sinne gibt, ist es, was jeden, der mensch- liches
Angesicht trägt, nötigt, die menschliche Gestalt überall, sie sei nun
bloß angedeutet und werde erst durch ihn - abermals mit Notwendigkeit -
darauf übertragen, oder sie stehe schon auf einer gewissen Stufe der
Vollendung, anzuer-kennen und zu / respektieren. Menschengestalt ist dem Menschen notwendig heilig.
_______________________________________________________________________J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, SW Bd. III, S. 84f.
Nota. - Die
historischen Fakten lieferten schon damals keine erfahrungsmäßige
Evidenz für die Aussage, Menschengestalt sei dem Menschen notwendig
heilig. Zu oft hatte er sich die-ser Notwendigkeit entwunden. Wie kommt so ein Satz an diese Stelle?
Die
Transzendentalphilosophie hatte enthüllt, was auf dem Entwicklungsgang
der Vernunft 'mit Notwendigkeit geschehen sein musste' - weil anders sie
nie so, wie sie ist, hätte entste-hen können. Wohl ist dieser Entwicklungsgang aus Freiheit zurückgelegt worden; um aber zu diesem Ergebnis zurückgelegt werden zu können, hatte er so zurückgelegt werden müs-sen.
Die spekulative Rekonstruktion aus kritisch-analytisch bloßgelegten Prämissen ist überhaupt nur nötig gewesen, weil die Vernunft selber, die in möglich gewordener Erfahrung besteht, nicht darüber berichten kann, was geschehen sein mag, bevor sie gegeben war und - Erfah-rungen machen konnte.
An dem Punkt, wo er die zunächst nur spekulative postulierte Reihe vernünftiger Wesen als im obigen Sinn bedingt notwendig und im Rechtsverhältnis realisiert erwiesen hatte, war die Aufgabe der Transzendentalphilosophie ihrem Umfange nach - in die Tiefe wird sie uner-schöpflich sein - erfüllt. Der Philosoph muss von nun an wie jeder andere von nachweis-lichen Tatsachen ausgehen.
Das
hat Fichte ja offenkundig erkannt, denn ab besagtem Punkt argumentiert
er mit Histo-risch-Faktischem. Nur dummerweise nicht mit Nachweislichem.
Er argumentiert in Wahr-heit gar nicht mehr, sondern versucht, seinen
Leser mit blumiger Rhetorik in Stimmung zu setzen. Es ist ihm wohl klar, dass sein Räsonnement über Naturrecht schließlich auf Politik
hinauslaufen wird, und das ist sein unverhohlener Zweck. Er will so
tun, als sei die Heilig-keit der menschlichen Gestalt ein
unmittelbarer, nicht weiterer Ableitung fähiger Satz der Vernunft
selber.
Nicht,
dass er eine löbliche Absicht verfolgt hat, steht in Frage. Aber
philosophisch war es falsch und hat der Absicht selbst geschadet. Eine
rationale Anthropologie hat den mühsa-men Weg über die ersten Sozial- und
Kulturbildungen der Menschen, die Weisen ihres Lebensmittelerwerbs und
die Formen ihrer Arbeitsteilung zu gehen. Das fing zu Fichtes Zeit eben
erst an, zu einem für die Vernunft brauchbaren Ergebnis ist es zuerst in
Gestalt der Kritik der Politischen Ökonomie gelangt. Dazwischen lag die industrielle Revolution, davon konnte Fichte noch nichts ahnen. Aber inzwischen sind wir klüger.
JE, 16. 5. 19