Sonntag, 9. März 2025

Das wirkliche Subjekt ist gespalten.

  Soehnée                                                                                                                 zu Philosophierungen

Das autonome Subjekt ist kein Naturdatum. Es muss sich bilden. Das Bilden geschieht durch das Einordnen alles Wirklichen (Erlebten) in das Spannungsfeld zwischen zwei Polen: 'Ich' und 'die Welt'. (Beide haben ein 'Sein' nur als Pole dieses Feldes.)

Unsere Welt ist die Wirklichkeit, betrachtet vom Pol 'Welt' aus, meine Welt ist die Wirklich-keit, betrachtet vom Pol 'Ich' aus. Beide sind Abstraktionen: nämlich vom wirklich-Erlebten.
Persönlichkeitsstörungen sind das Aufgeben des einen Pols zugunsten des andern.

aus e. Notizbuch, 5. 9. 08
 

Als Absolutes Ich fasst die Transzendentalphilosophie die historisch-wirklichen Subjekte auf insofern, als sie vernünftig sind. Vernünftig sind sie als Bürger unserer Welt. Nur da hat Vernunft etwas zu bestellen.
11. 4. 22 



Samstag, 8. März 2025

Bürgerliche Dieselbigkeit.

dreamstime             aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Ich muss auf jene geschehene Anerkennung in jedem Verhältnisse, in das ich mit dem Individuum C komme, mich berufen und ihn nach derselben beurteilen.

1) Es ist vorausgesetzt, ich komme mit ihm, einem und demselben C, in mehrere Verhält-nisse, Berührungspunkte, Fälle des gegenseitigen Behandelns. Ich muss daher die gegebe-nen Wirkungen auf ihn beziehen [und] an die schon als die seinigen beurteilten anknüpfen können.


2) Aber er ist, so wie er gesetzt ist, gesetzt als bestimmtes Sinnenwesen und Vernunftwesen zugleich; beide Merk/male sind in ihm synthetisch vereinigt. Das erste zufolge der sinnli-chen Prädikate seiner Einwirkung auf mich; das letztere lediglich zufolge der geschehenen Anerkennung meiner. Erst in der Vereinigung beider Prädikate ist er durch mich überhaupt gesetzt [und] mir erst ein Objekt der Erkenntnis geworden. Ich kann demnach auf ihn ledig-lich isofern eine Handlung beziehen, inwiefern sie teils mit den sinnlichen Prädikaten der vorhergehenden, teils mit der durch ihn geschehenen Anerkennung meiner zusammen-hängt und durch sie bestimmt ist.
_______________________________________________________________________J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, SW Bd. III, S. 48f. 


Nota. - Das Thema ist die Identität des andern als Individuum. Wir befinden uns offenbar schon in einer bürgerlich verfassten Gesellschaft, das Individuum C ist nicht 'für mich' als Vertreter eines Standes, einer Zunft, einer organischen Gemeinde, sondern es ist für mich nur als Subjekt einer Reihe von Handlungen. Und zwar einer zufälligen Reihe: Der Charak-ter der bürgerlichen Gesellschaft ist Öffentlichkeit, dort kann jederzeit und bei jeder Gele-genheit ein Anderer an mich herantreten, dem ich nie zuvor begegnet bin und vielleicht nie wieder begegnen werde - doch vielleicht auch fortan alle Tage. Alles kann immer anders sein, doch er bliebe immer auch derselbe. Seine Dieselbigkeit ist nicht gesetzt durch dasje-nige (Gegebene), dem ich ihn zurechnen muss, sondern dasjenige (Getane), das ich ihm zurechne.
JE, 18. 2. 19

 

Freitag, 7. März 2025

Maschinelle Moral?

                                                                          zu Philosophierungen 

Der elementare Fehler in dem ganzen Ansatz ist... nein, nicht erst, dass er soziale Klugheit für Moralität hält - das ist nur abgeleitet. Zugrunde liegt vielmehr die Auffassung, als sei Moralität so etwas wie Verstand. Nämlich so etwas wie Logik: das Höhere begründet das Untere, das Allgemeine das Besondere, das Prinzip seine Ableitungen, der Zweck das Mit-tel. Moralisches Handeln bestünde im Zuordnen einzelner Fälle zu einer je anzuwendenden Norm. 

Das ist immernoch besser, als würde unter Moral eine Summe einzelner Fälle verstanden und bestünde in einer Art empirisch auszumachenden gemeinsamen Nenners. Aber weniger falsch ist es nicht.

Moral kommt von lat. mos, mores - Sitte, Gebräuche. Das griechische ethos bedeutet das-selbe; Ethologie heißt daher die Verhaltenskunde bei Mensch und Tier. 

Historisch waren sie der Ursprung dessen, was man heute unter Sittlichkeit versteht; sie bestimmen, was sich gehört und was sich nicht gehört. Dass ein Unterschied, gar ein Ge-gensatz entstehen kann zwischen dem, was sich in einer historisch gewachsenen Gemein-schaft gehört, und dem, ich für meine höchstpersönliche Pflicht erkenne, ist eine verhältnis-mäßig junge Erkenntnis, und sie beruht auf einer Erfahrung, die erst in komplexen moder-nen, nämlich bürgerlichen Gesellschaften so allgemein wurde, dass sie einen besonderen Namen nötig machte. Antigone war ein Einzelfall und als solcher tragisch. Der Konflikt zwischen gesellschaftlichen Normen und dem, was mir mein Gewissen gebietet, ist schon eine banale bürgerliche Standardsituation. Weil nämlich das eigenverantwortliche, autonome Subjekt zur selbstverständlichen Existenzbedingung geworden ist: Es muss selber entschei-den.

Die Sprache unterscheidet noch immer nur zwischen positiven herrschenden Moralen und einer problematischen Moralität. Die Verwirrung ist daher groß. Es kann ja vorkommen und tut es oft genug, dass der ganz außermoralische Blick auf meinen Vorteil mir rät, dem Gebot der herrschenden Moral zu folgen und die Stimme meines Gewissens zu überhören. 

Wer oder was ist aber mein Gewissen? Es ist das Bild, das ich mir von mir selbst gemacht habe und um dessentwillen ich mich achte. Der Autor sagt es selbst: Die Maschine kann sich nicht verantworten - nämlich nicht vor sich. 

Nun kann ich keinen Andern achten, wenn ich mich selbst nicht achte - und auf einmal verkehren sich die Seiten: Moralität wird zur Bedingung sozialer Klugheit. Und letztere muss der Maschine einprogrammiert werden, weil sie diese Bedingung selber nicht hat.

Das spielt in obigem Text freilich alles gar keine Rolle. Lesen Sie nochmal nach: Vor Gewis-sensentscheidungen stellt er seine Maschinen nirgendwo. Es geht überall nur um Nützlich-keitserwägungen in mehr oder weniger allgemeiner Hinsicht. So dass er mit seinem Ding problemlos durchgehen könnte, wenn er nur... bescheiden genug wäre, von Moral nicht zu reden.

Aber er tut es ganz ungeniert, und mit ihm Kreti und Plethi. Es passt, aber das ist keine Rechtfertigung, perfekt in eine Zeit, wo es neben Fakten noch alternative Fakten gibt und keiner es so genau nimmt; aber ein jeder zusieht, wo er bleibt.

aus Maschinelle Moral?, 14. März 2019

 

 

Nota. - Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE

Donnerstag, 6. März 2025

Recht schulde ich anderen, Moral schulde ich mir.

whatshihsaid                 aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkriti

Der Rechtsbegriff ist der Begriff eines Verhältnisses zwischen Vernunftwesen. Er findet daher nur unter der Bedingung statt, dass solche Wesen in Beziehung auf einander gedacht werden. Es ist nichtig, von einem Rechte auf die Natur, auf Grund und Boden, auf die Tiere u.s.f. bloß als solche, und nur die Beziehung zwischen ihnen und den Menschen gedacht, zu reden. Die Vernunft hat über diese nur Gewalt, keineswegs ein Recht, denn es entsteht in dieser Beziehung gar nicht die Frage nach dem Rechte. 

Ein anderes ist, dass man sich etwa ein Gewissen machen kann, dieses oder jenes zu genie-ßen. Aber dies ist eine Frage vor dem Richterstuhl der Moral und wird nicht aus Bedenk-lichkeit, dass die Dinge, sondern dass unser eigener Seelenzustand dadurch verletzt werden möge, erhoben. Wir gehen nicht mit den Dingen, sondern mit uns selbst zu Rate und ins Gericht. 

Nur wenn mit mir zugleich ein anderer auf dieselbe Sache bezogen wird, entsteht die Frage vom Rechte auf die Sache als eine abgekürzte Rede, statt der, wie sie eigentlich heißen sollte, vom Rechte auf den anderen, ihn vom Gebrauche dieser Sache auszuschließen.
_______________________________________________________________________
J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, SW Bd. III, S.
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Nota. - Der Absatz hat zuerst einen praktisch-politischen Sinn: Er zielt gegen das Grundei-gentum, d. h. gegen dessen historisch-rechtliche Herleitung. Eigentum beruht nach Fichte ursprünglich nicht auf Arbeit - Formation -, sondern auf Besitzergreifung: Okkupation (dies gegen Rousseau). Eigentum ist ein Gewaltverhältnis, das womöglich durch dies oder das, aber nicht durch die Vernunft zu rechtfertigen ist.

Philosophisch aktuell ist aber wieder die Unterscheidung von Recht und Moral. Dass die Erhaltung unserer natürlichen Umwelt so vielen Menschen inzwischen am Herzen liegt, ist selber die Folge einer Zivilisation, die - zwar erst in den Anfängen, aber fortschreitend - von Vernunft geprägt ist. Aber es ist eine Sache moralisch handelnder Individuen. Rechtlich und gemeinschaftlich bindend ist dagegen die Verpflichtung der einen gegen die andern, die Na-turbedingungen, unter denen sich die Gattung H. sapiens ausgebildet hat, so zu erhalten, dass sich H. sapiens weiter ausbilden kann.

Man muss nicht glauben, man stärke das rechtliche Empfinden, indem man ihm moralische Motive beimengt, oder das moralische Gewissen, indem man ihm rechtliche Befugnisse an-heftet. Das Gegenteil ist der Fall, beide zu vermischen schwächt ihre jeweilige Geltung und schädigt beide. Je entschiedener im öffentlichen Raum - dort, wo die vernünftigen Wesen einander begegnen - Recht herrscht, umso freier - freier von außermoralischen Motiven - ist das moralische Urteil der Einzelnen. Das Recht muss, um gelten zu können, notfalls vom Gemeinwesen gewaltsam erzwungen werden; für die Moral wäre ein solcher Versuch töd-lich.
JE
, 2. 3. 19

 

 

Mittwoch, 5. März 2025

Formelle und reelle Subsumtion der Arbeit unters Kapital.

Chaplin                                                              aus Marxiana

Die Vermehrung der Produktivkraft durch die einfache Kooperation und Teilung der Arbeit kostet dem Kapitalisten nichts. Sie sind unentgeltliche Naturkräfte der gesellschaftlichen Ar-beit in den bestimmten Formen, die sie unter der Herrschaft des Kapitals annimmt. 

Die Anwendung der Maschinerie
[hingegen!] bringt nicht nur Produktivkräfte der gesellschaft-lichen Arbeit ins Spiel im Unterschied von der Arbeit des vereinzelten Individuums. Sie ver-wandelt einfache Naturkräfte in Potenzen der gesellschaftlichen Arbeit, wie Wasser, Wind, Dampf, Elektrizität usw. Dies abgesehn von der Benutzung der mechanischen Gesetze, die in dem eigentlichen, arbeitenden Teil (i. e. direkt das Rohmaterial mechanisch oder che-misch verwandelnden Teil der Maschinerie) wirkt. 

Indes unterscheidet sich diese Form der Vermehrung der Produktivkräfte, hinc der notwen-digen Arbeitszeit dadurch: Ein Teil der bloßen Naturkraft, die angewandt wird, ist in dieser ihrer anwendbaren Form Produkt der Arbeit, wie die Verwandlung von Wasser in Dampf. Wo die bewegende Kraft, wie das Wasser z. B. natürlich als Wasserfall und dgl. vorgefunden wird {höchst charakteristisch, nebenbei bemerkt, daß die Franzosen das Wasser im Lauf des 18. Jahrhunderts horizontal wirken ließen, die Deutschen stets es künstlich brachen}, ist das Medium, wodurch seine Bewegung auf die eigentliche Maschinerie fortgeleitet wird, z. B. Wasserrad, Produkt der Arbeit. 

Ganz und gar aber gilt dies von der unmittelbar den Rohstoff umformenden Maschinerie selbst. Die Maschine- rie also, im Unterschied von der einfachen Kooperation und der Tei-lung der Arbeit in der Manufaktur, ist produzierte Produktivkraft; sie kostet; sie tritt als Wa-re (direkt als Maschinerie oder indirekt als Ware, die konsumiert werden muß, um der bewe-genden Kraft die erheischte Form zu geben) in die Produktionssphäre, worin sie als Maschi-nerie wirkt, als ein Teil des konstanten Kapitals. Wie jeder Teil des konstanten Kapitals fügt sie dem Produkt den Wert zu, der in ihr selbst enthalten ist, d. h,, verteuert es um die Ar-beitszeit, die zu ihrer eignen Produktion erheischt war. 

Die Maschinerie also, im Unterschied von der einfachen Kooperation und der Teilung der Arbeit in der Manufaktur, ist produzierte Produktivkraft; sie kostet; sie tritt als Ware (direkt als Maschinerie oder indirekt als Ware, die konsumiert werden muß, um der bewegenden Kraft die erheischte Form zu geben) in die Produktionssphäre, worin sie als Maschinerie wirkt, als ein Teil des konstanten Kapitals. Wie jeder Teil des konstanten Kapitals fügt sie dem Produkt den Wert zu, der in ihr selbst enthalten ist, d. h., verteuert es um die Arbeits-zeit, die zu ihrer eignen Produktion erheischt war. ...

In dem Maße, wie die Maschinerie aus ihrer Kindheitsstufe heraustritt, sich von den Di-mensionen und dem Charakter des Handwerkszeugs unterscheidet, das sie ursprünglich ersetzt, wird sie massenhafter und teurer, er/heischt mehr Arbeitszeit zu ihrer Produktion, steigt ihr absoluter Wert, obgleich sie relativ wohlfeiler wird, d. h., obgleich die wirksamre Maschinerie in dem Verhältnis ihrer Wirksamkeit weniger kostet als die minder wirksame, d. h., das Quantum Arbeitszeit, das ihre eigne Produktion kostet, in viel geringrem Verhältnis wächst als das Quantum Arbeitszeit, das sie ersetzt. Jedenfalls aber steigt ihre absolute Teu-erkeit progressiv, fügt sie also absolut größern Wert der von ihr produzierten Ware hinzu, namentlich im Vergleich zu dem Handwerkszeug oder selbst den einfachen und den auf Teilung der Arbeit beruhenden Instrumenten, die sie im Pro- duktionsprozeß ersetzt. 
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K. Marx, Ökonomisches Manuskript von 1861-63, in Marx-Engels-Werke Band 43, Berlin 1990, S. 318f.



Nota. - Der Ausdruck kommt hier zwar noch nicht vor, aber es geht um den Unterschied, den M. später als den zwischen formeller und reeller Subsumtion der Arbeit unter das Ka-pital beschreiben wird. Die einfache Kooperation -
= Teilung der Arbeit - innerhalb dersel-ben Werkstatt könnte ein x-beliebiger Meister einführen, wenn sein Produkt nicht zünftig reglementiert wäre. Aber ein kapitalistischer Unternehmer muss sie einführen, wenn die Konkurrenz ihn zum Einsatz von Maschinen zwingt.

Denn ungezwungen würde er Maschinen niemals einführen: Sie kosten erst einmal viel Geld. Die Konkurrenz - der Warenmarkt - muss erst ein Ausmaß erreicht haben, das ihm wie ein Zwang vorkommt, damit er diese Investition riskiert. Mit andern Worten, das Ka-pital muss schon so weit entwickelt sein, dass ein höherer Grad der Arbeitsteilung (durch-schnittlich) gesellschaftlich notwendig geworden ist.

Es ist dies eine von den vielen Stellen, wo das Soffliche - der Gebrauchswert - unmittelbar in die Formbestimmung eingreift (oder umgekehrt die Formbestimmung in den Gebrauchs-wert; aber das ist logisch dasselbe).
JE,
15. 12. 18

 

 

Dienstag, 4. März 2025

"Menschengestalt ist dem Menschen notwendig heilig."

  Bamberger Dom                   aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Was den schon ausgebildeten Menschen am ausdrückendsten charakterisiert, ist das geistige Auge und der die innersten Regungen des Herzens abbildende Mund. Ich rede nicht davon, dass das erstere durch die Muskeln, in denen es befestigt ist, frei herumschwebt und sein Blick dahin, dorthin geworfen werden kann; eine Beweglichkeit, die auch durch die aufrech-te Stellung des Menschen erhöht, aber an sich mechanisch ist. 

Ich mache darauf aufmerksam, dass das Auge nicht bloß ein toter, leidender Spiegel ist wie die Fläche des ruhenden Wassers, / durch Kunst verfertigte Spiegel, oder das Tierauge. Es ist ein mächtiges Organ, das selbsttäig die Gestalt im Raume umläuft, abreißt, nachbildet; das selbsttätig die Figur, welche aus dem realen Marmor hervorgehen oder auf die Lein-wand geworfen werden soll, vorzeichnet, ehe der Meißel oder der Pinsel berührt ist; das selbsttätig für den willkürlich entworfenen Begriff ein Bild erschafft. ... Daher, je mehr geistige Selbsttätigkeit einer hat, desto geistreicher sein Auge; je weniger, desto mehr bleibt es ihm ein trüber, mit einem Nebelflore überzogemer Spiegel. 

Der Mund, den die Natur zum niedrigsten und selbstigsten Geschäfte, zur Ernährung be-stimmte, wird durch Selbstbildung der Ausdruck aller gesellschaftlichen Empfindungen, sowie er das Organ der Mitteilung ist. Wie das Individuum oder, da hier von festen Teilen die Rede ist, die Rasse noch tierischer und selbstsüchtiger ist, drängt er sich hervor; wie sie edler wird, tritt er zurück unter den Bogen der denkenden Stirn. 

Alles dies, das ganze ausdrückende Gesicht ist, wie wir aus den Händen der Natur kommen, nichts; es ist eine weiche, ineinander fließende Masse, in der man höchstens finden kann, was aus ihr werden soll, und nur dadurch, dass man seine eigene Bildung in der Vorstellung darauf überträgt, findet; - und eben durch diesen Mangel an Vollendung ist der Mensch der Bildsamkeit fähig.

Dieses alles, nicht einzeln, wie es durch den Philosophen zersplittert wird, sondern in einer überraschenden und in einem Momente aufgefassten Verbindung, in der es sich dem Sinne gibt, ist es, was jeden, der mensch- liches Angesicht trägt, nötigt, die menschliche Gestalt überall, sie sei nun bloß angedeutet und werde erst durch ihn - abermals mit Notwendigkeit - darauf übertragen, oder sie stehe schon auf einer gewissen Stufe der Vollendung, anzuer-kennen und zu / respektieren. Menschengestalt ist dem Menschen notwendig heilig.
_______________________________________________________________________J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, SW Bd. III, S. 84f.


Nota. - Die historischen Fakten lieferten schon damals keine erfahrungsmäßige Evidenz für die Aussage, Menschengestalt sei dem Menschen notwendig heilig. Zu oft hatte er sich die-ser Notwendigkeit entwunden. Wie kommt so ein Satz an diese Stelle?

Die Transzendentalphilosophie hatte enthüllt, was auf dem Entwicklungsgang der Vernunft 'mit Notwendigkeit geschehen sein musste' - weil anders sie nie so, wie sie ist, hätte entste-hen können. Wohl ist dieser Entwicklungsgang aus Freiheit zurückgelegt worden; um aber zu diesem Ergebnis zurückgelegt werden zu können, hatte er so zurückgelegt werden müs-sen.

Die spekulative Rekonstruktion aus kritisch-analytisch bloßgelegten Prämissen ist überhaupt nur nötig gewesen, weil die Vernunft selber, die in möglich gewordener Erfahrung besteht, nicht darüber berichten kann, was geschehen sein mag, bevor sie gegeben war und - Erfah-rungen machen konnte.

An dem Punkt, wo er die zunächst nur spekulative postulierte Reihe vernünftiger Wesen als im obigen Sinn bedingt notwendig und im Rechtsverhältnis realisiert erwiesen hatte, war die Aufgabe der Transzendentalphilosophie ihrem Umfange nach - in die Tiefe wird sie uner-schöpflich sein - erfüllt. Der Philosoph muss von nun an wie jeder andere von nachweis-lichen Tatsachen ausgehen.

Das hat Fichte ja offenkundig erkannt, denn ab besagtem Punkt argumentiert er mit Histo-risch-Faktischem. Nur dummerweise nicht mit Nachweislichem. Er argumentiert in Wahr-heit gar nicht mehr, sondern versucht, seinen Leser mit blumiger Rhetorik in Stimmung zu setzen. Es ist ihm wohl klar, dass sein Räsonnement über Naturrecht schließlich auf Politik hinauslaufen wird, und das ist sein unverhohlener Zweck. Er will so tun, als sei die Heilig-keit der menschlichen Gestalt ein unmittelbarer, nicht weiterer Ableitung fähiger Satz der Vernunft selber.

Nicht, dass er eine löbliche Absicht verfolgt hat, steht in Frage. Aber philosophisch war es falsch und hat der Absicht selbst geschadet. Eine rationale Anthropologie hat den mühsa-men Weg über die ersten Sozial- und Kulturbildungen der Menschen, die Weisen ihres Lebensmittelerwerbs und die Formen ihrer Arbeitsteilung zu gehen. Das fing zu Fichtes Zeit eben erst an, zu einem für die Vernunft brauchbaren Ergebnis ist es zuerst in Gestalt der Kritik der Politischen Ökonomie gelangt. Dazwischen lag die industrielle Revolution, davon konnte Fichte noch nichts ahnen. Aber inzwischen sind wir klüger.
JE,
16. 5. 19

 

Montag, 3. März 2025

Charakter der Vernünftigkeit ist Konsequenz.

                              aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Durch jeden meiner Begriffe wird der folgende in meinem Bewusstsein bestimmt. Durch den [hier] gegebenen Begriff ist eine Gemeinschaft bestimmt, und die weiteren Folgerungen hängen nicht bloß von mir, sondern auch von dem ab, der mit mir dadurch in Gemein-schaft getreten ist. Nun ist der Begriff notwendig, und diese Notwendigkeit nötigt uns bei-de, über ihn und seine notwendigen Folgen zu halten [sic]: Wir sind beide durch unsere Exi-stenz aneinander gebunden und einander verbunden.

Es muss ein uns gemeinschaftliches und von uns gemeinschaftlich notwendig anzuerken-nendes Gesetz geben, nach welchem wir gegenseitig über die Folgerungen halten; und die-ses Gesetz muss in demselben Charakter liegen, nach welchem wir eben jene Gemeinschaft eingegangen
[sind]: dies aber ist der Charakter der Vernünftigkeit, und ihr Gesetz über die Folgerungen heißt Einstimmigkeit mit sich selbst oder Konsequenz, und wird wissenschaft-lich aufgestellt in der gemeinen Logik.

Die ganze beschriebene Vereinigung der Begriffe war nur möglich in und durch Handlun-gen. Die fortgesetzte Konsequenz ist daher auch nur in Handlungen: kann gefordert wer-den und wird nur gefordert in Handlungen. Die Handlungen gelten hier statt der Begriffe, und von Begriffen an sich, ohne Handlungen, ist nicht die Rede, weil von ihnen nicht die Rede sein kann.
_______________________________________________________________________J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, SW Bd. III, S. 48


Nota. - Die so begründete Gemeinschaft ist ein Vertrag.* Aus ihm kann man nur ganz oder gar nicht austreten. Wer nachträglich einzelne Artikel desselben leugnet und ipso facto die Konsequenz aufkündigt, gibt die 'Einstimmigkeit mit sich selbst' auf und ist nicht länger der Kontrahent, mit dem der Vertrag geschlossen worden war.

So wie ihm zuzumuten ist, sich an die getroffene Wechselbestimmung zu 'halten', ist ihm auch zuzumuten, sich an alle folgerichtig daraus ergebenden Schlüsse zu halten. 

Die formale Kodifizierung der vorausgesetzten und der noch zu ziehenden Schlüsse ist die Logik. Und sie ist nichts als das. Sie ist notwendig nur unter einer (beständigen) Vorausset-zung: der wechselseitigen Anerkennung in der Reihe vernünftiger Wesen.
17. 2. 19

 

*Nota II. - Eine durch Vertrag begründete Gemeinschaft ist eine Gesell schaft. Das moder-ne auf Vernunft sich berufende politische Denken versteht das bürgerliche Gemeinwesen so, als ob es eine durch gegenseitigen Vertrag gestiftete Körperschaft sei, in der alle Anteil-haber gegen einander gleich verpflichtet sind. 

Das ist keine historische Gegebenheit, sondern ein Postulat, das dadurch Wirklichkeit wird, dass es im Alltag rechtlich als schon geltend zu unterstellen ist. Es ist Fiktion, deren Realität durch Praxis allezeit erneuert werden muss. Es ist ein Maßstab und ist mehr als Recht: Das ist Politik

Von der Politik darf ein Jeder verlangen, dass sie rechtens und dasss sie vernünftig ist, denn darüber können gültige Urteile gefällt werden. Nicht so über Moral, Glauben und Schön-heit. Um die wird immer gekämpft werden müssen, da können Recht und Vernunft lediglich die Regeln vorgeben, aber nicht selber entscheiden.
JE



Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE

Sonntag, 2. März 2025

Neugewonnene Gewissheit.

Lothar Sauer                                                                                     zu Philosophierungen

Die Annahme eines absoluten Rechtsgrunds allen Geltens ist das Erbe unserer natürlichen Vorgeschichte. Mit dem Fortfall der 'Umwelt' verlor diese Annahme ihre praktische Verbin-dung mit den wirklichen Lebensbedingungen. Es entstand der Hiatus: das fragen-Müssen.

Das Absolute als Idee ist ein Reflexionsprodukt. Es kommt zustande, 'weil anders gar nichts gelten könnte'. Es ist eine Konstruktion a tergo. Oder, mit Fichte zu reden, eine proiectio per hiatum irrationalem. (Er hat den Jacobi besser verstanden als der sich selbst. Dafür hat der ihn besser verstanden als er sich selbst.)

aus e. Notizbuch, Mai 2007


Das Absolute ist die Wiederherstellung der Selbstverständlichkeit, die uns mit dem Verlas-sen unserer Urwaldnische verloren gegangen ist, mit andern Mitteln. Während die Gründe der Selbstverständlichkeit dem Tier als seine Umwelt gewissermaßen im Rücken liegen, ha-ben wir die Bürgschaft allen Geltens erst noch vor Augen, und in ganz weiter Ferne.
22. 11. 14

 

Das wirkliche Subjekt ist gespalten.

  Soehnée                                                                                                                 zu Philosophieru...