Montag, 11. November 2024

Die als flüchtig gesetzte Substanz.

seo-blog                                                    aus Marxiana

Das Geld in seiner lezten, vollendeten Bestimmung erscheint nun nach allen Seiten als ein Widerspruch, der sich selbst auflöst; zu seiner eignen Auflösung treibt. Als allgemeine Form des Reichthums steht ihm die ganze Welt der wirklichen Reichthümer gegenüber. Es ist die reine Abstraction derselben, – daher so festgehalten blose Einbildung. Wo der Reichthum in ganz materieller, handgreiflicher Form als solcher zu existiren scheint, hat er [als Geld] seine Existenz blos in meinem Kopf, ist ein reines Hirngespinst. Midas.

Andrerseits als materieller Repräsentant des allgemeinen Reichthums wird es blos verwirk-licht, indem es wieder in Circulation geworfen, gegen die einzelnen besondren Weisen des Reichthums verschwindet. In der Circulation bleibt es als Circulationsmittel; aber für das aufhäufende Individuum geht es verloren und dieß Verschwinden ist die einzig mögliche Weise es als Reichthum zu versichern. 

Die Auflösung des Aufgespeicherten in einzelnen Genüssen ist seine Verwirklichung. Es kann nun wieder von andren Einzelnen aufgespeichert werden, aber dann fängt derselbe Prozeß von neuem an. Ich kann sein Sein für mich nur wirklich setzen, indem ich es als bloses Sein für andre hingebe. Will ich es festhalten, so verdun-stet es unter der Hand in ein bloses Gespenst des wirklichen Reichthums. 

Ferner: Das Vermehren desselben durch seine Aufhäufung, daß seine eigne Quantität das Maaß seines Werths ist, zeigt sich wieder als falsch. Wenn die andren Reichthümer sich nicht aufhäufen, so verliert es selbst seinen Werth in dem Maaß in dem es aufgehäuft wird. Was als seine Vermehrung erscheint, ist in der That seine Abnahme. Seine Selbstständigkeit ist nur Schein; seine Unabhängigkeit von der Circulation besteht nur in Rücksicht auf sie, als Abhängigkeit von ihr. Es giebt vor allgemeine Waare zu sein, aber ihrer Natürlichen Beson-derheit wegen, ist es wieder eine besondre Waare, deren Werth sowohl von Nachfrage und Zufuhr abhängt, als er wechselt mit seinen spezifischen Productionskosten. 

Und da es selbst in Gold und Silber sich incarnirt, wird es in jeder wirklichen Form einsei-tig; so daß wenn das eine als Geld das andre als besondre Waare und vice versa erscheint und so jedes in beiden Bestimmungen erscheint. Als der absolut Sichre, ganz von meiner Individualität unabhängige Reichthum, ist es zugleich als das mir ganz äusserliche, das Ab-solut Unsichre, das durch jeden Zufall von mir getrennt werden kann. Ebenso die ganz widersprechenden Bestimmungen desselben als Maaß, Circulationsmittel, und Geld als solches. 

Endlich
in der lezten Bestimmung widerspricht es sich noch, weil es den Werth als sol-chen / repräsentiren soll; in der That aber nur ein identisches Quantum von veränderli-chem Werth* repräsentirt. Es hebt sich daher auf als vollendeter Tauschwerth. 
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K. Marx Grundrisse, MEGA II/1.1   S. 157f. [MEW 42, S. 160]


*) nämlich als Edelmetall; aber auch die Papierwährungen wechseln ihren Wert nach Markt-lage. Dagegen wird der Reichtum längst nicht mehr als Geld angehäuft, sondern "in Papie-ren angelegt". Deren Börsenwerte werden in Geld angegeben. Es steht nicht für eine Sache ein – den Wert –, sondern für ein Verhältnis: den Wert. Und ein Verhältnis ist veränderlich in dem Maße, wie die sich gegeneinander Verhaltenden ihr Verhalten ändern.
26. 10. 15


Nota. - Eine Substanz, die flüchtig ist - die entflieht -, ist keine. Noch sind wir in den Grundrissen, noch hat sich Marx vom Hegeljargon noch nicht befreit und kann sich nur durch Paradoxa dialektisch ausdrücken. Was hier als Substanz bezeichnet wird, ist die gesell-schaftlich Geltung als Substanz, und die ist real nur während der Handlung, solange die Transaktion wirklich geschieht, nämlich als deren Zweck und Maß. Sobald sie abgeschlos-sen ist, verfliegt die Geltung zu reiner Idealität: Sie verflüchtigt sich.
JE,
15. 12. 19

 

 

Sonntag, 10. November 2024

Was ist und was gilt..

akquise-coach                                                                             aus Marxiana

Genau betrachtet erscheint nämlich der Verwerthungsprocess des Capitals – und das Geld wird nur zu Capital durch den Verwerthungsprocess – zugleich als sein Entwerthungspro-cess, its demonetisation. Und zwar nach doppelter Seite hin. Erstens, soweit das Capital nicht die absolute Arbeitszeit vermehrt, sondern die relative nothwendige Arbeitszeit ver-mindert durch / Vermehrung der Productivkraft, reducirt es die Productionskosten seiner selbst - soweit es als bestimmte Summe von Waaren vorausgesezt war, seinen Tauschwerth: 

Ein Theil des bestehnden Capitals wird beständig entwerthet, durch Verminderung der Pro-ductionskosten, zu denen es reproducirt werden kann; nicht Verminderung der Arbeit die in ihm vergegenständlicht ist, sondern der lebendigen Arbeit, die nun nöthig ist, um sich in diesem bestimmten Product zu vergegenständlichen. 
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K. Marx,
Grundrisse, MEGA II/1.2 S. 315f. [MEW 42, S. 316]  


Nota. - Der Wert ist nicht eine sachliche Eigenschaft des Produkts, sondern eine Geltung, die ihm gesellschaftlich zugerechnet wird. Denn der Wert bemisst sich nicht nach dem Quantum Arbeit, das gestern tatsächlich in dem Produkt vergegenständlicht wurde, sondern an dem Arbeitsquantum, das nötig wäre, wenn er heute neu hergestellt werden müsste. Es geht beim Wert nämlich nicht um wirkliche, von diesem oder jenem lebendigen Arbeiter tatsächlich an einem Stück Materie geleistete Arbeit, sondern wiederum nur um das Quan-tum Arbeit, als das es gilt: um die gesellschaftlich notwendige Arbeit; denn wenn der wirk-liche Arbeiter auch eine Dreiviertelstunde daran gearbeitet hat, so gilt sie nur als eine halbe Stunde, wenn dieses Werkstück im gesellschaftlichen Durch
schnitt von einem durchschnitt-lichen Arbeiter in einer halben Stunde hergestellt werden kann. Und ist über Nacht die durchschnittliche, gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit für dieses Produkt entsprechend gesunken, dann gilt die Dreiviertelstunde tatsächlich geleisteter Arbeit womöglich nur als 20 Minuten. - Und das ist keine Phantasie, sondern gesellschaftlich wirklich: Der Arbeiter dürf-te recht bald arbeitslos werden.
JE
8. 11. 15

 

 

Samstag, 9. November 2024

Auch historisch entstehen das Ich und die Welt miteinander.

      
C. D. Friedrich, Der Wanderer über dem Nebelmeer, 1818                         aus Wissenschftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik  

Für jene Urvölker, von denen wir noch Denkmäler haben, die ihre Erfahrungen noch wenig vereinigten, sondern die einzelnen Wahrnehmungen zerstreut in ihrem Bewusstsein liegen ließen, war keine solche wenigstens weit fortgehende Kausalität noch Wechselwirkung. Fast alle Gegenstände in der Sinnenwelt belebten sie und machten dieselben zu ersten freien Ur-sachen, wie sie selbst waren. Ein solcher Zusammenhang hatte für sie nicht etwas keine Re-alität, sondern er war überhaupt nicht da für sie.

Wer aber seine Erfahrungen zur Einheit verknüpft, - und die / Aufgabe dazu liegt auf dem Wege der synthe- tisch fortschreitenden menschlichen Vernunft und musste über kurz oder lang aufgenommen werden, - der muss notwendig auf jene Weise verknüpfen, und für sie hat der dadurch gegebene Zusammenhang des Ganzen Realität.
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J. G Fichte, Grundlage der Naturrechts..., SW III, S. 25f.

Nota I. - Das Ich ist nicht nur ' genetisch', nach der materialen Logik der aus einander her-vorgehenden Vorstellungen, sondern auch empirisch-historisch das unvermeidliche Kom-plement der 'Welt'. Die Vorstellung vom autonomen Subjekt und die Vorstellung von einem durch allgemeine Gesetze formierten Universum bilden gemeinsam die mentale Basis für die Durchsetzung der bürgerlichen Verkehrsweise in der Gesellschaft.
30. 10.14  

Nota II. - Nicht eigentlich mit-, sondern durch einander
 JE

 

 

Freitag, 8. November 2024

Vom Begriff abwärts oder aus der Erfahrung aufwärts?

Stebchen, pixelio.de            aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Ich habe bisher im Gegenteile geglaubt, daß Schwärmerei, Wahnsinn, Raserei darin bestehe, daß man seine Erdichtungen für wirkliche Gegenstände hält, und der gesunde Verstand da-rin, daß man nichts für wirklich hält, das sich nicht auf eine innere oder äußere Wahrneh-mung gründet. ...

Diesem System ist das unsrige darin gerade entgegengesetzt, daß es die Möglichkeit, ein für das Leben und die Wissenschaft gültiges Objekt durch das bloße Denken hervorzubringen, gänzlich ableugnet und nichts für reell gelten läßt, das sich nicht auf innere oder äußere Wahrnehmung gründet. In dieser Rücksicht, inwiefern die Metaphysik das System reeller, durch das bloße Denken hervorgebrachter Erkenntnisse sein soll, leugnet z. B. Kant, und ich mit ihm, die Möglichkeit der Metaphysik gänzlich. Er rühmt sich, dieselbe mit der Wur-zel ausgerottet zu haben, und es wird, da noch kein verständiges und verständliches Wort vorgebracht worden, um dieselbe zu retten, dabei ohne Zweifel auf ewige Zeiten sein Be-wenden haben.                                                                                                                     _______________________________________________ 

J. G. Fichte, Rückerinnerungen, Antworten, Fragen [S. 113f.]  

 

Nota I. - Vom Ich, das sich setzt als sich selbst vorausgesetzt, werden in der Wissenschafts-lehre abenteuerliche Dinge berichtet. Nun kann man dem Ich, das zugegebenermaßen ein reines Gedankending ist, nicht bei seinem Tun zusehen; nämlich nicht bei einem Andern. Man muss es an sich selbst beobachten: im Vollzug.

 

 
"In diesem Collegio wird experimentiert, das heißt, die Vernunft wird gezwungen, auf ge-wisse planmäßige Fragen zu / antworten, die Resultate unserer Experimente fassen wir dann in Begriffe zum Behuf der Wissenschaft und des Gedächtnisses." WL nova methodo, S. 34f. 

So unkritisch Wolff und Baumgarten mit ihren Begriffen hantierten, so apodiktisch be-schreibt Kant in den Kritiken das Verfahren der Vernunft: So ist es, Punkt. Fichte treibt die Vernunftkritik auf die Spitze und kehrt von dort aus Schritt für Schritt zur Vernunft zurück. Er fordert seine Hörer auf, einen jeden Schritt mitzutun und stets darauf zu achten, wie sie dabei vorgehen. So war keiner vor ihm verfahren.

Zu bemerken ist noch die Bestimmung der Begriffe: Sie sind tatsächlich Resultat der Ge-dankenexperimente; gefasst werden sie lediglich "zum Behufe der Wissenschaft und des Gedächtnisses." Zum Quell neuer Erkenntnisse werden sie selber nicht.
26. 7. 18 
 
 
Nota II. - Die Wissenschaftslehre beobachtet, wie in ihrem Gedankenexperiment ein Ich, wenn es wirklich wäre, verfahren müsste, um zu bestimmten (sic) Vorstellungen zu gelan-gen. Dies hypothetische Verfahren des hypothetischen Ichs ist die Erste semantische Ebe-ne. Die Resultate ihrer Beobachtung fasst sie zum Behufe der Wissenschaft und des Ge-dächtnisses in Begriffe: das ist die Zweite semantische Ebene. Im Verfahren des hypothe-tisch beobachteten Ichs kommen die Begriffe nicht vor und werden nicht zu Anhaltspunk-ten seines fortschreitenden Vorstellens. Sie sind die Werkzeuge, mit denen der kritische Philosoph auf das hypothetische Verfahren des lediglich angenommenen Ich reflektiert.

Dieser Gedanke ist an sich nicht schwer zu fassen. Die Schwierigkeit ergibt sich erst aus dem diskursiven Fortschreiten der Darstellung, wo beim Beschreiben der ersten Ebene stets die zweite, und auf der zweiten Ebene stets die erste im Hinterkopf zu behalten ist - ohne sie versehentlich zu vertauschen. Es ist aber eigentlich nur ein Exerzitium in Fleiß und Auf-merksamkeit; die Vorstellungskraft selbst wird gar nicht beansprucht. 
 
Der eigentliche Kraftakt des transzendentalen Verfahrens musste gleich am Anfang erbracht werden, wo man sich auf die Fiktion eines Reinen Ichs einlässt, das man handeln lässt, als ob es wirklich wäre - eine Erste semantische Ebene, die nicht real ist. Wer das nur halbher-zig zuwege bringt, dem helfen nachher auch Fleiß und Aufmerksamkeit nicht.
JE, 22. 11. 20
 
 

Donnerstag, 7. November 2024

Wahrheit ist Wahrhaftigkeit.

                            aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik 

Ich muss das Objekt so oder so vorstellen, wenn ich es richtig vorstellen will: Indem ich das sage, meine ich, ich könnte es auch nicht-richtig vorstellen wollen, und die Notwendigkeit meines Denkens ist nur bedingt und hängt ab von meiner Freiheit. Was ist dies für eine Freiheit und wo kommt sie vor?

Ich bin beschränkt in A; die ideale Tätigkeit, die aus dieser Beschränktheit hervorgeht, ist auch beschränkt. Diese beschränkte ideale Tätigkeit ist die Anschauung Y. Diese ist aber hier der Strenge nach nichts als eine von uns vorausgesetzte Idee, denn sie ist ja nicht für das Ich. Soll sie für das Ich etwas sein, so muss von neuem dar- auf reflektiert werden, das Ich muss von neuem sie setzen.

Man nehme an, diese neue Reflexion soll mit Freiheit geschehen.

Die praktische Tätigkeit lässt sich ganz unterdrücken, so dass gar keine mehr übrig wäre, sondern nur ein Stre- ben nach ihr. Aber der Charakter der idealen Teäigkeit ist, dass sie mir bleibe und nicht aufgehoben werden könne. Sie soll nur in / Y beschränkt sein, aber sie kann nicht aufgehoben werden; sie ist sonach nur zum Teil beschränkt und kann sich von dieser Beschränktheit losreißen; in der Anschauung Y ist die ideale Tätigkeit nur zum Teil beschränkt, sie kann sich losreißen mit Freiheit. Ob sie sich unbedingt losreißen müsse oder nicht, oder falls das letzte stattfinden sollte, unter welchen Bedingungen, werden wir sehen.

Das Ich soll gesetzt werden als das Anschauende, aber das Ich ist nur das Tätige und nichts anderes. Sonach muss die Anschauung als Produkt der freien Tätigkeit gesetzt werden, und nur dadurch wird sie es. Aber Tätig- keit lässt sich nach dem allgemeinen Gesetz der An-schauung nur setzen als ein Übergehen von Bestimmbarkeit zur Bestimmtheit. Ich soll mich tätig setzen heißt, ich soll meiner Tätigkeit zusehen. Dies ist aber ein Übergehen vom Unbe-stimmten zum Bestimmten. Soll die Anschauung also als frei gedacht werden, so muss sie auch in demselben Moment gebunden gesetzt werden. Freiheit ist nichts ohne Gebunden-heit et vice versa. Das Losreißen ist nicht möglich ohne etwas, wovon gerissen wird. Nur durch Gegensatz entsteht Bestimmtheit des Gesetzten.

Wie kann nun Freiheit und Beschränktheit der idealen Tätigkeit beisammen sein? So: Wird auf die Bestimmtheit des praktischen (realen) Ich reflektiert, so muss auch Y notwendig so gesetzt werden, also nur die Synthesis ist notwendig. Oder: Soll die Vorstellung wahr sein, so muss ich den Gegenstand so vorstellen, ob aber diese Synthesis vorgenommen werde, dies hängt von der Freiheit des Vorstellenden ab, welches [sic] in sofern keinem Zwange un-terworfen ist. 
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J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 97f.



Nota. - Der Eintrag schließt unmittelbar an den gestrigen an. Es ging darum, wie 'das Ding außer uns der Wahrheit gemäß dargestellt' werden kann. Ist nun etwa doch die Rede davon, was das Ding "an sich" sei? Wahrheit bezieht sich hier offenbar nicht auf das Ding, sondern auf die Vorstellung vom Ding. Es geht darum, dass in der Vorstellung sich schließlich nichts vorfindet, als was im Verlauf der vorstellenden Tätigkeit wirklich gesetzt und bestimmt wor-den ist; es geht um die Wahrhaftigkeit des Vorstellenden. Eine andere Wahrheit kann es für die Transzendentalphilosophie nicht geben. 



Als vernünftig soll gelten ein Denken, das dem Schema der Wissenschaftslehre folgt. Nach ihm konstituiert sich die Reihe vernünftiger Wesen. Jene ist die Vernunft in ihrer Wirklich-keit. So weit sie dem Schema folgen - so weit sie vernünftig denken -, müssen sie alle in der Darstellung der Dinge außer uns übereinstimmen: Das bedeutet Wahrheit. 

Sie müssen, sofern sie die Eingangsbedingung gewählt haben und ihr treu geblieben sind: Das Ich setzt sich, indem es sich ein/em Nichtich entgegensetzt - reale Tätigkeit - und be-stimmt sich, indem es sich sich-selbst entgegensetzt - ideale Tätigkeit; daraus folgt alles. Die Notwendigkeit dieses oder jenes Denkens, der Denkzwang tritt ein lediglich unter dieser Bedingung; sie wurde durch Freiheit gewählt und wird durch Freiheit erhalten. Jeder, der spinnen will, mag spinnen.
JE, 26. 10. 18

Mittwoch, 6. November 2024

Wahres Wissen ist zirkulär.

lichtkunst.73,           aus Wissenschftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik 
 
Der Faden der Betrachtung wird an dem hier durchgängig als Regulativ herrschenden Grundsatze: nichts kommt dem Ich zu, als das, was es in sich setzt, fortgeführt. Wir legen das oben abgeleitete Factum zum Grunde, und sehen, wie das Ich dasselbe in sich setzen möge. Dieses Setzen ist gleichfalls ein Factum, und muss durch das Ich gleichfalls in sich gesetzt werden; und so beständig fort, bis wir bei dem höchsten theoretischen Factum an- kommen; bei demjenigen, durch welches das Ich (mit Bewusstseyn) sich setzt, als bestimmt durch das Nicht-Ich. So endet die theoretische Wissenschaftslehre mit ihrem Grundsatze, geht in sich selbst zurück, und wird demnach durch sich selbst vollkommen beschlossen.
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J. G. Fichte, Grundriss des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre, in Rücksicht auf das theoretische Vermögen, SW I, S. 333.


§ 1. Erster, schlechthin unbedingter Grundsatz.

Wir haben den absolut-ersten, schlechthin unbedingten Grundsatz alles menschlichen Wis-sens aufzusuchen.

Beweisen oder bestimmen lässt er sich nicht, wenn er absolut-erster Grundsatz seyn soll. Er soll diejenige Thathandlung ausdrücken, welche unter den empirischen Bestimmungen un-seres Bewusstseyns nicht vorkommt, noch vorkommen kann, sondern vielmehr allem Be-wusstseyn zum Grunde liegt, und allein es möglich macht. Bei Darstellung dieser Thathand-lung ist weniger zu befürchten, dass man sich in etwa dabei dasjenige nicht denken werde, was man sich zu denken hat – dafür ist durch die Natur unseres Geistes schon gesorgt – als dass man sich dabei denken werde, was man nicht zu denken hat. Dies
macht eine Reflexion über dasjenige, was man etwa zunächst dafür halten könnte, und eine Abstraction von allem, was nicht wirklich dazu gehört, nothwendig. 

Selbst vermittelst dieser abstrahirenden Reflexion nicht – kann Thatsache des Bewusstseyns werden, was an sich keine / ist; aber es wird durch sie erkannt, dass man jene Thathand-lung, als Grundlage alles Bewusstseyns, noth- wendig denken müsse. ... 

Die Gesetze, nach denen man jene Thathandlung sich als Grundlage des menschlichen Wissens schlechterdings denken muss, oder – welches das gleiche ist – die Regeln, nach welchen jene Reflexion angestellt wird, sind noch nicht als gültig erwiesen, sondern sie werden stillschweigend, als bekannt und ausgemacht, vorausgesetzt. Erst tiefer unten wer-den sie von dem Grundsatze, dessen Aufstellung bloss unter Bedingung ihrer Richtigkeit richtig ist, abgeleitet. Dies ist ein Cirkel; aber es ist ein unvermeidlicher Cirkel.
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J. G. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, SW Bd. I, S. 91f.

 

Nota. - Wenn es aber zirkulär ist, dann ist es kein Wissen. Wenn am oberen Ende genau-soviel steht wie am unteren, dann ist nichts hinzukommen - und das Wissen folglich leer.


Dies, wenn die Wissenschaftslehre eine logische Herleitung aus gegebenen Begriffen wäre - so wie die metaphysischen Systeme vor Kant. Die Wissenschaftslehre ist dagegen ein retro-aktives Postulat. Sie ist keine Konstruktion der Wirklichkeit aus Prämissen, sondern eine eine experimentelle Unterschung des Gangs unserer Vorstellungstätigkeit. Es wird der Un-tersuchung eine problematische Behauptung zu Grunde gelegt - und nur, wenn nach Ab-schluss der Untersuchung nicht mehr und nicht weniger und schon gar nichts anderes steht als am Anfang; nur, wenn nichts hinzugekommen und der Zirkel lückenlos geschlossen ist, hat sich die problematische Eingangsbehauptung bewährt.

Was immer es tut: Das Ich 'setzt sich', indem es sich ein/em Nichtich entgegensetzt - und zwar immer fort. Alle Tätigkeit des Ich ist Fortschreiten in der Bestimmung von Unbe-stimmtem. Von nicht anderem kann es wissen. Das ist - zusammenfassend - leicht gesagt. Doch um es einzusehen, war die hirnbrechende Ochsentour der Wissenschaftslehre unum-gänglich. Der sachliche Gehalt der realen Wissenschaften wird davon um keinen Deut er- weitert. Aber sie können nun ihres Wissens gewiss sein - wenn anders Wissen überhaupt möglich sein soll.

*

Die Frage Was ist Wissen? - oder: Was ist wahr? - formuliert Fichte um in: Wie kommen wir zu der Annahme, dass einigen unserer Vorstellungen Dinge außerhalb unserer Vorstellun-gen entsprechen? Das ist der prosaische Kern, der in der pompösen Frage nach der Warheit drinsteckt. 
JE 29. 7. 18

 

Dienstag, 5. November 2024

Kritik, ihr Verfahren und ihr Ergebnis.

  gutefrage                        zu   Wissenschftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik 

Kritik heißt Prüfung und Beurteilung. Ihr angezeigtes Verfahren ist analytisch-synthetisch. Synthese ist möglich erst infolge vorausgegangener Analyse, Sinn der Analyse ist die fol-gende Synthese.

Kant hat die Kritik nur bis zur ersten Hälfte* der Analyse geführt: bis zum Apriori von zwölf Kategorien und zwei Anschauungsformen. Eine Synthese hat er zwar immer wieder in Angriff genommen - Opus postumum -, aber immer wieder abgebrochen. Über das A priori hinaus und zurück auf den 'Grund' - das als Wollen identifizierte virtuelle Ich - hat Fichte die Analyse vervollständigt. Das war der Erste Gang der Wissenschaftslehre. 

Die Wissenschaftslehre ist auch eine Wissenschaft. Dem Verfahren von Prüfung und Berurteilen hat sie sich in processu selber zu unterziehen.

Der Zweite Gang ist die Probe aufs Exempel: Lässt sich aus den von der Analyse freigeleg-ten Elementen die faktisch gegebene Vernunft ihrer Zeit rekonstruieren? Das ist die Synthe-se. Sie führt bis zu dem Punkt, wo die Wissenschaftslehre die wirklich-wirkende Vernunft als 'Reihe vernünftiger Wesen' und die von ihr allezeit ausgehende Aufforderung zum Frei-heitsgebrauch ausgemacht. 

Analyse + Synthese haben ergeben, dass es begründetes Wissen wirklich gibt.Was gewusst wird, stellen die realen Wissenschaften täglich neu dar. Die Kritik hat sie gerechtfertigt. Frei-lich mit dem Zusatz, dass sie sich ihrer - die Wissenschaften der Kritik - immer wieder zu vergewissern haben.

Das war es, was zu erweisen sie sich vorgenommen hatte.

 

*) Das methodische Eingangsproblem der Vernunftkritik hat Kant gar nicht bemerkt: dass er zur Kritik der Vernunft über keine andern Werkzeuge verfügt als jene, die die Vernunft selbst ihm bereitstellt. Fichte hat aus diesem Grund zwischen vernünftigen Begriffen und intuitiven Vorstellungen als deren Material unterschieden. Die Tragweite dieser Unterscheidung ist ihm selbst nicht klar geworden und er macht sie nie ausdrückih zum Thema. 

 

 


 

Montag, 4. November 2024

Ein Verhältnis ist keine Sache; aber eine Tat-Sache.

W. Mattheuer, Verstrickt                                                                                  aus Marxiana

Die wechselseitige und allseitige Abhängigkeit der gegen einander gleichgültigen Individuen bildet ihren gesellschaftlichen Zusammenhang. Dieser gesellschaftliche Zusammenhang ist ausgedrückt im Tauschwerth, worin für jedes Individuum seine eigne Thätigkeit oder sein Product erst eine Thätigkeit und ein Product für es wird; es muß ein allgemeines Product produciren – den Tauschwerth oder, diesen für sich isolirt, individualisirt, Geld. Andrerseits die Macht, die jedes Individuum über die Thätigkeit der andren oder über die gesellschaftli-chen Reichthümer ausübt, besteht in ihm als dem Eigner von Tauschwerthen, von Geld. Es trägt seine gesellschaftliche Macht, wie seinen Zusammenhang mit der Gesellschaft, in der Tasche mit sich.

Die Thätigkeit, welches immer ihre individuelle Erscheinungsform, und das Product der Thätigkeit, welches immer seine besondre Beschaffenheit, ist der Tauschwerth, d. h. ein Allgemeines, worin alle Individualität, Eigenheit negirt und ausgelöscht ist. Dieses ist in der That ein Zustand sehr verschieden von dem, worin das Individuum oder das in Familie und Stamm (später Gemeinwesen) naturwüchsig oder historisch erweiterte Individuum direkt aus der Natur sich reproducirt oder seine productive Thätigkeit und sein Antheil an der Production an eine bestimmte Form der Arbeit und des Products angewiesen ist und sein Verhältniß zu andren eben so bestimmt ist.

Der gesellschaftliche Charakter der Thätigkeit, wie die gesellschaftliche Form des Products, wie der Antheil des Individuums an der Production erscheint hier als den Individuen gegen-über Fremdes, Sachliches; nicht als das Verhalten ihrer gegen einander, sondern als ihr Un-terordnen unter Verhältnisse, die unabhängig von ihnen bestehn und aus dem Anstoß der gleichgültigen Individuen auf einander entstehn. Der allgemeine Austausch der Thätigkeiten und Producte, der Lebensbedingung für jedes einzelne Individuum geworden, ihr wechsel-seitiger Zusammenhang, erscheint ihnen selbst fremd, unabhängig, als eine Sache.

Im Tauschwerth ist die gesellschaftliche Beziehung der Personen in ein gesellschaftliches Verhalten der Sachen verwandelt; das persönliche Vermögen in ein sachliches. Je weniger gesellschaftliche Kraft das Tauschmittel besizt, je zusammenhängender es noch mit der Natur des unmittelbaren Arbeitsproducts und den unmittelbaren Bedürfnissen der Aus-tauschenden ist, um so grösser muß noch die Kraft des Gemeinwesens sein, das die Indi-viduen zusammenbindet, patriarchalisches Verhältniß, antikes Gemeinwesen, Feudalismus und Zunftwesen. 
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K. Marx, Grundrisse, MEGA II/1.1 S. 90 [MEW 42, S. 90f.] 

 

Nota. - Verhältnis ist die Substanziierung von verhalten. Ein Etwas verhält sich zu irgend-etwas anderm. Das sind mindestens schon zwei. Das Verhältnis geschieht (sic) als Tätigkeit von mindestens Einem. Es ist kein Drittes.
JE, 24. Mai 2018

 

 

Sonntag, 3. November 2024

Vernunft ist keine Sache, sondern ein Verhalten.

Matisse, La danse II                                                        zu Philosophierungen

Mit der Frage, wie die Vernunft (der Geist, der Sinn...) in die Welt gekommen ist, hat es  eine ähnliche Bewandtnis wie mit der Frage, wie der Wert (das Kapital) in die Welt gekom-men ist. 

Im ersten Falle brauchte, da aus nichts nichts wird, Fichte sein vorgeschichtliches Normal-volk, das dann wie die Abderiten in alle vier Winde zerstreut ward, um unmerklich hier und da und schließlich überall das Licht unter den Leuten anzuzünden. Wie als Echo darauf führt Max Scheler den "Genotyp des Bourgeois", d. h. den Juden ein, der den Kapitalismus als Naturanlage "mitgebracht" und dann über die Erde verstreut hat.

Tatsächlich sind beide Fragen im Wesen verwandt. Sie lösen sich, wenn man aufhört, Wert und Vernunft als seiende Sachen aufzufassen, sondern als Verhältnis begreift - das als sol-ches allerdings erst "in Erscheinung tritt", sobald es 'entwickelt' ist. Aber eben: Es ent
wik-kelt sich aus vorangegangenen Verhältnissen.
 
Und da erhellt plötzlich, dass es sich beidemal wirklich "irgendwie" um dasselbe handelt: nämlich um das Setzen dessen, was vor allem andern gelten soll. Vernunft nennen wir ein solches Verhalten der Menschen zu sich und den Dingen, das sich an den wahren Werten der Dinge orientiert. (Und welches der wahre Wert der Dinge ist, lässt sich immer nur - ex post - praktisch ermitteln aus dem vernünftigen Verhalten...) 

Ist das ein verbaler Trick, Verhältnis aus Verhalten abzuleiten? Mitnichten; nur solche, die sich zueinander verhalten, haben ein Verhältnis. Von Verhältnis ist gar nicht zu reden, als wenn die Teilnehmer als Handelnde vorgestellt werden. Richtig, Teilnehmer: Denn an einem Verhältnis nehme ich teil - oder ich habe keines. Vernünftig nennen wir Verhältnisse, in denen die wahren Werte den Ausschlag geben. Wie wir die Werte setzen, bestimmt je-weils unser Urteil über die Vernünftigkeit (oder andersrum - aber das erst, wenn sich die Werte zu einem "System" sozialisiert haben, dessen Kohärenz Maßstab für die Gültigkeit einzelner Werte wird.)

Aber in der Wirklichkeit erscheinen 'Werte' zuerst individuell - und zwar im Gegensatz zu den physiologischen Erhaltungserfordernissen. Jedes Handeln, das sich an Anderem als den Bedürfnissen der Selbst- und Arterhaltung orientiert, ist ipso facto werthaft. Denn es wählt.

In der Geschichte erscheint es punktuell, nämlich kultisch

Die erste Stelle, wo regelmäßig ein Verhalten aufgetreten ist, das keinerlei Bezug zu den physiologischen Erhaltungsfunktionen mehr hat - und das darum als Abschluss der Ho-minisation gilt -, ist die Haltung zum Tod.

Die Menschen wissen, dass sie sterben werden; vorher waren sie keine. Man kann über-haupt sagen: Es ist ihr erstes Wissen. Sobald sie es wissen, hört der Tod auf, ein bloßes Naturgeschehen zu sein - und sie setzen einen Fuß aus der Naturgeschichtlichkeit ins Reich der Freiheit. Nur weil sie sterben müssen, bekommt ihr Leben einen Sinn.

31. 12. 1994


Nachtrag I. - Hier ist die Frage realphilosophisch, d. h. anthropologisch gestellt, nämlich: wie die Vernunft in die Welt gekommen ist. Noch nicht die Rede ist davon, worin sie be-steht. Das ist erst eine Frage der Transzendentalphilosophie. 
21. 3. 17

Nachtrag II. - Ein Verhältnis 'gibt es' gar nicht. Was 'es gibt', ist lediglich, dass Eines sich zu einem Andern verhält. Von dem, was der eine mit dem andern tut, kann ich, wenn ich einen Grund dafür habe, absehen. Das ändert aber nichts an dem Sachverhalt: dass einer etwas tut. 'Es gibt' nicht Vernunft als objektive Eigenschaft dessen, was einer tut; es gibt nur Ver-nünftigkeit seines Tuns: Er selbst handelt vernünftig oder nicht. 

Alles weitere wäre Abstraktion und fiele in die Verantwortlichkeit des außenstehenden Be-trachters. Nur für ihn 'gibt es' ein Verhältnis. 'An sich' verhält sich immer nur Eines zu einem Andern, siehe oben. Anthropologie und Transzendentalphilosophie gehen nicht in-einander über oder gar ineinander auf. Sie sind zweierlei Gesichtspunkte - Perspektiven, aus denen man etwas sehen kann -, aber alternierend entweder dieser oder der andere.

Zusammenfassend gesagt: Vernünftigkeit ist ein (tätiges) Verhalten.

Denn die wahren Werte, die - siehe oben - das Verhalten der Menschen bestimmen, sind die Zwecke, die sie verfolgen. Gültig sind nicht schon die Zwecke, die ich oder ein anderer wirklich erstrebt, sondern solche, die geeignet sind, zu Zwecken aller zu werden. Das kann und muss man vorab erwägen. Doch erweisen kann es sich immer erst in der Tat. Ohne Wagemut keine Vernünftigkeit.
JE, 25. 7. 21

 

 

Samstag, 2. November 2024

Ursprung und Zweck der Vernunft.

                                     zu   Wissenschftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Woher und wozu wir vernünftig wurden

Dass das, was ist, ist, haben wir nicht selbstgemacht. Es ist schlechterdings da, wieso und wozu kann uns vor der Hand gleichgültig sein. Denn das, was es ist, haben wir allerdings selber bestimmt und bestimmen es unentwegt neu: was es für uns sein soll, was man daraus machen kann, als was es uns gilt. Das ist ein praktische Frage.

Einem isolierten Individuum hat sie sich in der Geschichte nie gestellt. Defoes Robinson hatte den Zweckbegriff aus der Zivilisation mitgebracht, und wenn er gelegentlich einem Ding, das er noch nicht kannte, einen neuen Zweck anerfunden hat, so hatte er die Idee, Dinge an ihren Zwecken zu erkennen, doch nicht selber erfinden müssen.


Die Menschen und ihre Vorläufer in der Gattungsgeschichte konnten nicht leben, ohne zusammen- zuleben. Dinge fanden sie nicht als Einzelne vor, sondern gemeinsam. Die Frage nach ihren Zwecken stellte sich nicht jedem allein, sondern allen zusammen. Oder auch: Als geltend bewährt haben sich diejenigen Zwecke, die sie teilten, die andern gingen wieder verloren. So entstanden Begriffe von den Dingen.


Richtig ist wohl, dass die Zwecke, die unsere Vorläufer erfanden, sich hauptsächlich aufs nackte Überleben bezogen haben dürften - auf ihren Erhaltungswert für die Individuen in ihren Lebensgemeinschaften. Materielle Zwecke teilen sich regelmäßiger mit, ideelle Zwek-ke bleiben länger individuell. Aber das ist ein gradueller Unterschied, der mit der Höhe der Kultur abnimmt; im Prinzip ist ein Zweck ein Zweck.


Historisch ist es zwar eine bedeutsame Frage, wie immaterielle und daher fernerliegende Zwecke für Homo sapiens eine so viel mächtigere Kraft gewinnen konnten als in allen andern Gattungen. Aber dass es so ist, ist ein Faktum, das aller Anthropologie richtung-weisend zugrundeliegt. Denn umstritten sind die Zwecke nur, wenn und weil sie geteilt werden sollen. 

Es ist diese historische Gegebenheit, die wir seit gut drei Jahrhunderten als Vernunft be-zeichnen. Sie aktualisiert sich alltäglich im Streit.
30. 8. 17 


Auch dies ist nicht transzendental und im Konjunktiv gesprochen, sondern realistisch im Indikativ. Dass die Vernunft in der Welt ist, dass alle Vernünftigen darin übereinkommen, dass sie allenthalben zu gelten hat und dass die Vernünftigen den Meinungskampf überall da beherrschen, wo er öffentlich stattfindet, ist das Faktum, von dem die Transzendentalphilo-sophie ausgeht. Nicht nur ausgeht: ist das Faktum, das sie verstehen will; das Faktum, auf das sie hinausläuft.

Das wirkliche Aufkommen der Vernunft im Laufe der Geschichte kann wohl mit den In-strumenten der Vernunft - Begriff und logische Schlussregeln - beschrieben werden. Aber da sie sich selber voraussetzen, können sie nicht sichtbar machen, was an dem beschriebe-nen Geschehen das Vernüftige gewesen sein soll: Es ist ein Petitio principii, durch die nichts verständlicher wird.

Verstehen, 'wie die Vernunft zur Welt gekommen ist', will der Transzendentalphilosoph ja, um einen Maßstab zu finden, nach dem er beurteilen kann, ob dieses oder jenes vernünftig ist. Er will nicht aus Neugier entdecken, wo die Vernunft herkam, sondern er will wissen, wie sie begründet ist. Dass sie begründet ist, muss er aus heuristischen Gründen voraus-setzen, sonst hätte er ja nichts, wonach er suchen kann. So wird er von der Vernunft ein Modell entwerfen. Mit dem ist es wie mit allen Modellen: Sie bestehen, wenn sie in Bewe-gung die Leistungen erbringen, die von ihnen erwartet werden. Vorausgesetzt ist die Lei-stung, aufgesucht werden die Bedingungen, unter denen sie möglich ist. Leistet das Modell, was es soll, so wird es selber Kriterium der Vernünftigkeit: Was nicht ins Modell passt, ist aus dem Verkehr vernünftiger Wesen auszuscheiden.

Die Transzendentalphilosophie ist Vernunftkritik. Hat sie ihre Arbeit besorgt, kann sie sich der wirklichen Geschichte davon zuwenden, wie die Vernunft nach und nach die Köpfe von immer mehr Menschen erfasst hat, und kann beurteilen, ob ihr Anspruch auf Weltherrschaft realistisch ist. Dieser zweite Arbeitsgang heißt Anthropologie.
JE, 6. 7. 18
 
 
 
Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe sie im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und ihre Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE

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