
Es ist die Bestimmung unseres Geschlechtes, sich zu einem einigen, in
allen seinen Theilen durchgängig mit sich selbst bekannten, und
allenthalben auf die gleiche Weise ausgebildeten Körper zu vereinigen.
Die Natur, und selbst die Leidenschaften und Laster der Menschen haben
von Anfang an gegen
/ dieses Ziel hingetrieben; es ist schon ein grosser Theil des Weges zu
ihm zurückgelegt, und es lässt sich sicher darauf rechnen, dass
dasselbe, die Be-dingung der weiteren gemeinschaftlichen Fortschritte, zu
seiner Zeit erreicht seyn werde.
Befrage man doch die Geschichte nicht,
ob die Menschen im Ganzen rein sittlicher gewor-den! Zu ausgedehnter,
umfassender, gewaltiger Willkür sind sie herangewachsen; aber bei-nahe
wurde es nothwendig durch ihre Lage, dass sie diese Willkür fast nur zum
Bösen an-wendeten. Befrage man sie ebensowenig, ob die auf einige wenige
Puncte zusammenge-drängte ästhetische Bildung und Verstandes-Cultur der
Vorwelt nicht die der neueren Welt dem Grade nach übertroffen haben
möchte! Es könnte kommen, dass man eine beschä-mende Antwort erhielte,
und dass in dieser Rücksicht das Menschengeschlecht durch sein Alter
nicht vorgerückt, sondern zurückgekommen zu seyn schiene.
Aber befrage
man sie, diese Geschichte, in welchem Zeitpuncte die vorhandene Bildung
am weitesten ausgebreitet, und unter die mehrsten Einzelnen vertheilt
gewesen; und man wird ohne Zweifel finden, dass vom Anfange der
Geschichte an bis auf unsere Tage die wenigen lichten Puncte der Cultur
sich von ihrem Mittelpuncte aus erweitert, und einen Einzelnen nach dem
anderen, und ein Volk nach dem anderen ergriffen haben, und dass diese
weitere Verbreitung der Bildung unter unseren Augen fortdauere.
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J. G. Fichte, Die Bestimmung des Menschen, SW II, S. 270f.
Nota II. - Die Bestimmung des Menschen markiert Fichtes Übertritt von der transzenden-talen Vernunftkritik - 'echter durchgeführter Kritizismus' - zur dogmatischen metaphysi-schen Spekulation. Sie besteht aus drei Teilen. Im ersten - Zweifel - werden die Grundvor-stellungen der rationalistischen Systeme dargestellt und der Kritik unterzogen. Im zweiten Teil - Wissen - resümiert er den zweiten, 'rekonstruierenden' Gang der Wissenschaftslehre. Im abschließenden dritten Teil, Glauben, räumt er ein, dass die Kritik letzten Endes nichts als einen Nihilismus begründen kann, den er, darin Jacobi folgend, ablehnt, weil er eine vernunftgerechte Lebensführung nicht möglich macht.
Vernunftgerecht
wäre eine Lebensführung, die sich die Vereinigung der Menschheit zu
einem einzigen von einem gemeinsamen Willen beseelten Körper zum Ziel
setzte, erfahren wir hier. Wo hat er das her? Aus der Vernunftkritik ja
eben nicht. Nicht verschämt räumt er es ein, sondern stolz sagt er es
geradeheraus: aus dem Glauben. Dagegen sind philosophi-sche, wissenschaftliche
Argumente machtlos, man muss es gar nicht erst probieren. Dass Fichte
bis an sein frühes Lebensende darauf beharrte, er habe von Anfang an
immer nur diese eine Philosophie gelehrt, ändert nicht an dem Faktum,
dass er mit der Bestimmung des Menschen mit der kritischen und Transzendentalphilosophie gebrochen hat.
14. 6. 22
Nota I. - Es sei aber nicht verschwiegen, dass in der Sache
Fichtes "a priori" entworfene Geschichtsmetaphysik manchen sehr viel
moderneren Anschauungen beherzt vorgreift. Manchmal hat man den
Eindruck, Karl Marx müsse Fichte aufmerksam studiert haben - was er mit
Sicherheit nicht getan hat. Doch manche Themen, die Fichte
angerissen hatte, sind anscheinend in der Luft - vielleicht auch nur der
Luft der Berliner Universität - hängen-geblieben.
JE, 17. 16. 14
Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE
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