
Kants Hauptwerk sind die Drei Kritiken. Darin analysiert ("kritisiert") er die tatsächlich zu beobachtenden Leistungen des menschlichen Geistes; die "reine" (theoretische) Vernunft, die "praktische Vernunft" (das moralische Wollen) und die Urteilskraft (worin er in kurioser Weise ästhetische Wertungen und Zweckerwägungen zusammenfasst).
Daraus, dass diese Leistungen tatsächlich geschehen, schließt er, dass ihnen
jeweils ein "Ver-mögen" zugrunde liegen muss. Und ebenso, wie die Drei
Kritiken offenbar ohne vorheri-gen Plan auf einander folgten, liegen Kants drei
"Vermögen" unvermittelt neben einander, ohne dass ihr wechselseitiges
Verhältnis klar würde. (Das ist ein ganz langes Kapitel für sich...)
Fichte
"radikalisiert" Kant nun dahingehend, dass er überhaupt nur ein geistiges Vermögen voraussetzt, das
an und für sich praktisch ist und das
er in jeweils verschiedenen Hinsichten als "produktive
Einbildungskraft", als schlechthinniges "Streben" oder eben als
das (trans-zendentale) "Ich" bestimmt. Wobei festzuhalten ist, dass
sein (einziges) "Vermögen" ebenso wenig wie Kants (drei) Vermögen
naturalistisch oder psychologisch gemeint sind; so, als ob man sie durch
empirische Forschung im Organismus "nachweisen" könnte. Sie sind
"trans-zendental" gemeint: nicht als Tatsachenbehauptung, sondern als
Sinnzuschreibung.
Auch in
sittlicher Hinsicht radikalisiert Fichte Kant. Über jenen wurde gesagt, sein
"katego-rischer Imperativ" sei viel zu formal und inhaltsleer, als
dass sich ein lebendiger Mensch dar-an ausrichten könnte. In Wahrheit ist er
noch längst nicht formal genug und enthält noch viel zu viel Positives.
Vernünftiger Weise lässt sich nur ein Imperativ aufstellen: Handle je-derzeit
nach deinem selbstverantworteten Urteil, Punkt.
aus e. online-Forum, 19. 10. 2007
Nachtrag. Lat. radix heißt Wurzel. Radikal ist, was an die Wurzel geht. Fichte radikalisiert Kant in dem Sinne, dass er dessen ihm selbst nicht ganz klare "Wurzel" freilegt - das allen Gestaltungen und insbesondere den zweckmäßigen Handlungen des Geistes zu Grunde lie-gende Absolute Ich; das allerdings nicht als in Raum und Zeit real anzutreffend gedacht, sondern als logisch sinngebend aufzufassen ist: als nachträglich analytisch aufgefunderer Er-klärungsgrund.
Von da aus unternimmt er die Rekonstruktion der Geschichte der Vernunft, wie sie sich sinngemäß 'zugetragen haben muss', und kehrt über das von Kant so genannte Apriori der Kategorien und Anschauungsformen bis zur Herleitung von Naturrecht und Politik - und damit zu den reellsten und konkretesten Anwendung der historisch wirklichen Vernunft.
Fichte ist mit seiner Wissenschaftslehre nicht ganz fertiggeworden, der Atheismusstreit hat ihn abgelenkt. In ihren Grundzügen führt sie Kants Projekt der Vernunftkritik zu Ende, lässt aber in manchen Lücken und offenen Enden genügend
Raum für unternehmungsfro-he Entdecker. Es ist ganz und gar nicht so,
wie allgemein dargestellt wird - dass dem zeit-genössischen
philosophischen Denken nur die dürftige Wahl bliebe zwischen
pedantischen "Systematikern" und schriftgelehrten "Kontinentalen". Eine
resolute Hinwendung zur Transzendentalphilosophie würde die Philosophie
aus ihrer gegenwärtigen Stagnation er-lösen und für frische Luft sorgen.
7. 6. 22
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen