Donnerstag, 29. Februar 2024

Eine immanente Dimension

                                                 zu Philosophierungen

Es hätte ja wirklich nicht mit rechten Dingen zugehen können, wenn die Affinität, um nicht zu sagen: der Drang der Marx'schen Dialektik zur transzendentalen Perspektive nicht auch andern klugen Leuten aufgefallen wäre. 

Hier ein originelles Beispiel; ich würde mir wünschen, dass beide Verfasser auf Fichte aufmerksam würden und Marx mit ihm verglichen statt mit Kant:


aus: Inventionen
Zur Aktualisierung poststrukturalistischer Theorie, S. 118ff.

...In der Tradition des deutschen Idealismus wurde das Subjekt seit Kant als ein universelles Bewusstsein erfasst. Das Subjekt konnte mit der Vernunft der Menschheit identifiziert werden, weil es über allen einzelnen Individuen und zugleich als jedem Individuum innewohnend vorgestellt wurde. Dieses Bewusstsein, dieses transzendentale Subjekt begründet die Welt, macht sie durch seine Kategorie oder Repräsentationsform verständlich. Die Repräsentationsformen beziehen sich auf keinen empirischen Bereich. Kant postuliert ein Reich der Zwecke, das auf gegenseitiger Rücksicht zwischen den Menschen beruht und das mit seiner Idee einer reinen praktischen Vernunft korreliert. Die bedingungslose moralische Freiheit ist das Reich, das den Zwängen der Natur und der Erfahrung entgeht. ...

Hier setzt die Potenzialität des Begriffes ›Immanenz‹ an. Bei Marx ergibt sich eine Theorie der Konstitution der Welt, die die Frage nach dem Transzendentalen umkehrt. Hier begründet das transzendentale Subjekt oder das universelle Bewusstsein keine Welt. Marx’ Analyse zerstört die transzendentale Dimension, weil sie die Frage nach dem Subjekt ganz anders stellt: Anstelle einer transzendentalen Verortung setzt Marx die Subjektivität an die Stelle des Ergebnisses, des Effekts eines sozialen Prozesses. Das Subjekt, von dem allein Marx spricht, ist praktisch, vielfältig, anonym und unbewusst. Mit Marx können wir sagen, dass der diesbezügliche Fehler der Philosophen ein zweifacher war: Erstens haben sie die Essenz als eine Idee oder eine Abstraktion gedacht, das heißt als einen universellen Begriff, unter dem die (individuellen) Differenzen angeordnet werden können; zweitens haben sie gedacht, dass diese allgemeine Abstraktion den Individuen derselben Gattung (als Qualität, die sie besitzen) innewohnt. 

Marx lehnt beide Positionen ab. Marx lehnt die Position ab, die darin besteht, zu behaupten, dass die Gattung oder die Essenz der Existenz der Individuen vorausgeht; aber er lehnt auch die philosophische Behauptung ab, die sagt, dass Individuen primäre (erste, grundlegende) Realitäten sind, das heißt Realitäten, von denen Universalien abstrahiert werden können. Nach Marx sind beide Positionen unfähig, die vielfältigen und aktiven Beziehungen zu begreifen, in die sich Individuen (durch Sprache, Arbeit, Kämpfe usw.) zueinander setzen. Das Gemeinsame entsteht nur durch diese Beziehungen als eine immanente Dimension. Was Individuen gemeinsam haben, ist das Ergebnis dieser Beziehungen.

Durch die Betonung der Konstitutivität von Beziehungen eröffnet Marx einen Weg, der wichtig für die Philosophie des 20. Jahrhunderts sein wird – von Kojève und Simondon über Lacan bis zu Foucault und Deleuze: Es geht um einen Begriff von ›Transindividualität‹ und von ›transindividueller Realität‹. Transindividualität ist nicht, was idealerweise (als Form oder Substanz) jedem Individuum innewohnt oder was dazu dienen würde, Individuen von außen einzuordnen, sondern was zwischen den Individuen existiert als ihre vielfältigen Interaktionen.

Roberto Nigro
Gerald Raunig


 

Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE

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