Dienstag, 27. Februar 2024

Darauf hat die Welt gewartet.

                                       zu Philosophierungen

Seit gut einem Jahrzehnt blogge ich in meinem Internetwinkel still vor mich hin. Aufsehen habe ich nicht erregt, dazu hatte ich nicht die Mittel. Ich begnüge mich mit dem bisschen, was ich habe. 

Ganz bescheiden? Ich bin nicht bescheiden. In all den Jahren stagnierte die Philosophie in einem dialogue de sourds zwischen Systematikern und Kontinentalen ohne jeden Schritt voran. Es gab auf beiden Seiten Versuche, in einer Theory Of Mind einen gemeinsamen Bezugspunkt zu finden. Aber es wurde keine Synthese, es war Mummenschanz und sie blieben, wie sie waren.

Warum? Da hätte man mit dem Alexanderschwert dreinhauen müssen: Einen Ausweg aus belese-ner Spitzenklöppelei und dilettantischer Improvisation konnte nur die Transzendentalphilosophie weisen, weil sie - "radikal" - die Dinge bei der Wurzel fasst: Was heißt Bedeutung? 

Das sei schon so alt? Aber Wurzeln hat es nie geschlagen.

In der Neuen Zürcher beklagt Peter Strasser den zähen Status quo. Ich fühle mich aufgefordert, ihm diese meine Ergänzung hinzuzufügen:

Presente!

Eine vitruvianische Idee vom Menschen: Skizze von Leonardo da Vinci, entstanden um 1490. 
aus nzz.ch, 26. 2. 2024    
                                                                                              
Stückwerk des Geistes 
Der Verfall von Großphilosophien kündet von der Formschwäche west-lichen Denkens, aber auch von der Demokratisierung des Denkens und Fühlens.
 
Die aufklärerischen Philosophien des Westens, welche die moderne Welt hervorgetrieben haben, stehen vor einem Trümmerhaufen. Was sich als universal verstand, wird heute als interessengeleitet denunziert. Das Erbe unserer Kultur steht auf dem Spiel und mit ihm die Idee der Menschheit.
 
von Peter Strasser 

Gibt es heute noch Grossphilosophien? Man könnte Peter Sloterdijks «Sphären»-Trilogie (1998–2004) als solche bezeichnen. Aber die «Neuerzählung» der Mensch-heitsgeschichte fällt sich selbst in den Rücken: Eine sich verzettelnde Lust am Meta-phorischen – die Sphären sind Kugeln, Blasen, Schäume – tritt an die Stelle des Ver-suchs, die Conditio humana in geistigen Prinzipien zu fundieren. 2013 erschien dann das Buch «Warum es die Welt nicht gibt» von Markus Gabriel. Mit dem Gestus des Großphilosophischen wird über die Welt als Ort von «Sinnfeldern» nachgedacht. Doch wehrt dieser «Neue Realismus» jede Reflexion über den «Sinn des Ganzen» ab. Der Welt selbst, als dem Ort alles Seienden, sei nichts dergleichen zuschreibbar . . .

Treten wir einen Schritt zurück. 1848: Friedrich Engels und Karl Marx wollten Hegel «vom Kopf auf die Füsse» stellen. Für Hegel, den Idealisten, waren das Ganze und der Geist identisch. Marx hingegen sah in der Geistmetaphysik, verkörpert durch Sitte und Religion, die Rechtfertigung bestehender Ausbeutungsverhältnisse: Opium für das Volk. Laut dem historischen Materialismus blockiert der «Geist», als bourge-oise Ideologie, die kommunistische Revolution; vergeblich. Großphilosophien blei-ben selten ohne blutige Utopie.

Doch bereits seit Hegels monumentaler Dialektik, die Arthur Schopenhauer als Ga-limathias, Aberwitz und Unsinn gegeißelt hatte, wurde immer deutlicher: Das Zeit-alter der Großphilosophien, die es unternahmen, die Welt, vom Atom bis zur Zivili-sationsdynamik, aus angeblich selbstevidenten Prinzipien herzuleiten, war vorbei. Aber nicht ganz, ein letztes Aufbäumen stand bevor. Martin Heidegger wollte in seinem epochalen Werk «Sein und Zeit» (1927) das tiefe Denken retten, indem er es vor den Gegenwartsdiskursen – dem «Gerede» – in Sicherheit brachte. Sein Motto: Rettung der Philosophie durch Wiederbesinnung auf ihren Ursprung.

Fehlendes Fundament

Laut Heidegger bedurfte es eines Rückgangs zur griechischen Vorsokratik, die etwa von 600 bis 350 v. Chr. ihre Ursprungs-Lehren formulierte. Nur dadurch wäre es möglich, erneut eine Philosophie des Seins zu entwickeln – und damit auch die grundlegende Stellung des Menschen zu bedenken, der als einziges Wesen zur Seins-Erkenntnis fähig, aber keineswegs die alle Maßstäbe setzende «Krone der Schöpfung» sei. Heidegger behauptet, seine ursprungsphilosophische Grundlegung befreie von den humanistischen, den rationalistischen und idealistischen Einengungen.

Dass der Meisterdenker sich dabei in pathetischen Formeln ergeht – das Sein wird schließlich als «Seyn» in einen quasireligiösen Rang erhoben –, ist von Kritikern oft hervorgehoben worden: Aus dem Sein/Seyn als Urgrund der Welt lässt sich alles und nichts herauszaubern. Wir haben es, nüchtern betrachtet, mit einer großphilosophi-schen Leerformel zu tun, in welche alle möglichen Welterklärer ihre obskuren Ge-danken hineinprojizieren können.

Wir leben in einer Zeit der Fragmentierungen des Geisteslebens, soweit die ideologischen Verwerfungen, die wir zurzeit durchleben, ein «Leben des Geistes» überhaupt zulassen.

Als Jürgen Habermas, linkshegelianisch geschult, 1968 sein Werk «Erkenntnis und Interesse» vorlegt, da ist der Geist gleichsam schon in die Brüche gegangen. Er hängt in seinen Leistungen ab von «transzendentalen Interessen»: Neben einem wissen-schaftlich-technischen und einem hermeneutischen, dem wechselseitigen Verständnis dienenden Interesse existiert – bei Habermas entscheidend – ein Interesse, das auf die Emanzipation des Menschen, dessen Befreiung von aller Ausbeutung und Selbst-entfremdung, gerichtet ist.

Bei alldem fehlt ein übergreifendes Prinzip oder Fundament, wie es noch der Fall war bei Kant («das Ding an sich»), bei Nietzsche («der Wille zur Macht»), bei Schopen-hauer («die Welt als Selbsterkenntnis des Willens») oder bei Heidegger («das Sein des Seienden»). Heute, nach einer stürmischen Phase der Sprachkritik, ist die akademi-sche Zunft längst von allen philosophischen Welterklärungstheorien abgerückt. Wir leben in einer Zeit der Fragmentierungen des Geisteslebens, soweit die ideologischen Verwerfungen, die der Westen zurzeit durchlebt, ein «Leben des Geistes» überhaupt zulassen.

In den ruhigeren akademischen Gewässern finden wir uns bei philosophischen Ein-zeldisziplinen wieder. Diese haben jeweils ihre eigenen Rayons und Regeln, ob es sich um Ontologie, Metaphysik, Erkenntnistheorie, Sprachanalytik, Ethik oder Sozialtheo-rie handelt. Nicht mehr wird beansprucht, eine umfassende Theorie allen Wissens oder der menschlichen Kondition zu bieten. Diese Selbstbescheidung im Umgang mit geisteserheblichen Themen passt in eine Welt der kulturellen Vielfalt. Deren «plurale» Gesinnung lehnt es ab, Philosophie als Nachfolgedisziplin einer religiösen Dogmatik zu betreiben.

Zerbrechlichkeit des aufgeklärten Denkens

Kein Zweifel, die Philosophie war, spätestens seit dem Durchbruch der neuzeitlichen Aufklärung, die privilegierte Nachfolgerin der großen religiösen Mythen, namentlich des Christentums – seiner Weltentstehungslehre, seiner Ethik und heilsgeschichtli-chen Apokalyptik. In dieser Funktion blieb das Denken zurückgebunden an Letztbe-gründungsmuster, was besonders den ethischen Universalismus des europäischen Denkens beflügelte. Christliches Naturrecht wurde schrittweise durch säkulare Prin-zipien ersetzt, die beanspruchten, den Grundbedürfnissen und Untiefen der mensch-lichen Natur am besten zu entsprechen. Die Pflicht-, Tugend- und Glücksmoralen sollten allgemeingültige Formen des Zusammenlebens ohne Rückgriff auf eine «übernatürliche» Ordnung ermöglichen.

Wir wissen heute um die Zerbrechlichkeit des aufgeklärten Denkens. Religionen prallen wieder mit voller Wucht aufeinander, die Vernunft wird denunziert, ja selbst die exakte Wissenschaft gerät in den Verdacht, von geldgierigen Mächten aus dem Hintergrund dirigiert zu werden. Im Übrigen konnten philosophische Großtheorien das Böse nie effektiv zähmen, die menschliche Raffgier, Brutalität und Mordlust nicht wirksam stilllegen. Mit derlei «Theorien» wurden Tyranneien und brutale Großmacht-bestrebungen grossflächig gerechtfertigt und begrifflich unterbaut, bis hin zu Hitlers Rassen- und Welteroberungswahn.

Aber auch jene Haltung, die heute im Westen als posttraditionale Sensibilität vor-herrscht, scheint fragwürdig. Laut ihr sind die Lebensstile doktrinärer, frauenverach-tender, judenfeindlicher, homophober Kulturen strikt abzulehnen; und trotzdem sind wir gehalten, unsere ethischen Standards nicht absolut zu setzen, sondern jede Kultur aus ihrer eigenen Tradition heraus zu «verstehen». Der Berufung auf die unverletzli-che Würde und Gleichheit aller entspricht keine Menschheitsmetaphysik mehr, wie sie in Schillers Zeile anklingen mochte: «Alle Menschen werden Brüder», die «Schwe-stern» eingeschlossen.

Warum fehlen uns zunehmend Stärke und Mut, um die Prinzipien der aufgeklärten Vernunft, ob in der Wissenschaft oder der Ethik, philosophisch zu untermauern und ihre Umsetzung einzufordern? Vielleicht, weil wir noch immer einer Welt ungebilde-ter, darbender und zum Fanatismus verführbarer Massen gegenüberstehen, die von monströsen Diktatoren und ihrem korrupten Anhang zu mörderischen Taten auf-gehetzt werden, während wir, moralisch feinnervig wie niemals zuvor, unseren Eurozentrismus geisseln?

Für die Idee der Menschheit

Ein Hauptgrund unseres Hangs zur Kleingeistigkeit liegt zweifellos darin, dass – ausserhalb des religiösen und naturrechtlichen Kontextes – das Selbstverständnis des Westens zusehends blasser geworden ist. Immer lauter melden sich individualistische und egomanische Stimmen zu Wort. Man kann die Schlag- und Stichworte der neuen Moralisten nicht mehr ohne Beklemmung aussprechen: politische Korrektheit, neue Wachheit («Wokeness»). Stets sind wir zu wenig korrekt oder nicht «woke» genug. Auf diese Weise beschleunigen sich die Auflösungstendenzen unserer historisch vermittel-ten Einheit des Guten, Wahren und Schönen. Dieser Erosion haben all die Opportu-nisten und Querköpfe, welche die Massenmedien und das Internet fluten, nichts entgegenzusetzen als Tagespolemik.

Aber vielleicht – auch diese Perspektive zählt – ist das Ende der philosophischen Großtheorien, in denen sich der «Geist» gerne gottgleich manifestierte, eine notwen-dige Folge der Demokratisierung des Denkens und Fühlens. Wer pragmatisch denkt, und zwar entlang der Grundbedürfnisse und Gefahren, die der menschlichen Natur innewohnen, wird eine Theorie der kleinen Schritte (Karl Poppers «piecemeal social engineering») befürworten. Fundamentalistische Weltbilder enden nicht selten beim Terror der Ideale, indem sie sich anheischig machen, das Wesen des Menschen zu befreien oder aber alle Menschlichkeit einer übermenschlichen Autorität zu opfern. Und so hat das Stückwerk des Geistes seine eigene Humanität. Zwar verweigert es sich aller Heroik, aber es lässt uns immerhin leben.

Dessen ungeachtet dürfen wir, über alle «Love, peace and respect»-Rhetorik hinaus, nicht aufhören, unsere Stellung im Ganzen des Seins und Weltseins philosophisch, religiös und existenziell zu befragen. Wir dürfen, nach unserer Selbstreinigung von eurozentristischen Verengungen, nicht davon Abstand nehmen, uns auf die univer-salethische Tradition des Abendlandes zu besinnen. Denn wir benötigen ein geistiges Fundament, welches dem Sog der narzisstischen und neonationalistischen Verlok-kungen widersteht. Wenn wir das Erbe unserer Kultur, geformt aus antiker, christli-cher und humanistischer Gesinnung, dauerhaft verspielen, dann opfern wir die Idee der Menschheit und versinken in den Egoismen der Kleingeistigkeit.

Peter Strasser ist Universitätsprofessor i. R. Er lehrt an der Karl-Franzens-Universität Graz Philosophie.

Postskriptum für Peter Strasser: Um groß geht es beim Philosphieren nicht, sondern um scharf. Radikal sein heißt, bei der Wurzel ansetzen. Einen Grund brauchen wir nicht, um zu einem Schluss zu kommen, sondern um uns die Richtung zu geben, in die es fortgehen soll. JE 

 

Nota. -  Dass ich mein System nur fragmentarisch darstellen konnte, gebe ich freimütig zu, und den Titel Großphilosophie beansprucht es nicht. Die Einsicht, dass dem zeitgenössi-schen Denken das Fundament fehlt, drängt sich jedem auf, der die gegenwärtigen Grund-strömungen des westlichen Denken vergleicht - die philologisch spitzenklöppelnden Konti-nentalen und die definitorisch flohknackenden Systematiker.

Ich habe auf deren Konjunktion nicht gewartet, ich schürfe seit vierzig Jahren am selben Ort nach einem Grund, und als ich auf einen festen Punkt gestoßen bin, hielt ich die Zeit für gekommen, dort mein Fundament zu legen - das ich aber von anderen auch schon vor-bereitet fand.

Da ich - ungern - den unsicheren Gang wagen musste, mein fragmentarisches System aus-schließlich im Internet vorzutragen, hat Peter Strasser meinen Weg nicht gekreuzt. Da bleibt mir nur, mich ihm so bemerkbar zu machen:

Ich bin da!
JE 

 

 

 

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