Sonntag, 18. Februar 2024

Die Wissenschaftslehre gründet auf Erfahrung.

Charlotte Spiess            zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik 

Nun sollte in unserer Voraussetzung das Ich ein Nicht-Ich setzen schlechthin und ohne allen Grund, d. i. es sollte sich selbst schlechthin und ohne allen Grund einschränken, zum Theil nicht-setzen. Es müsste demnach den Grund sich nicht zu setzen, in sich selbst ha-ben; es müsste in ihm seyn das Princip sich zu setzen, und das Princip sich auch nicht zu setzen. 

Mithin wäre das Ich in seinem Wesen sich selbst entgegengesetzt und widerstreitend; es wäre in ihm ein zwiefaches entgegengesetztes Princip, welche Annahme sich selbst wider-spricht, denn dann wäre in ihm gar kein Princip. Das Ich wäre gar nichts, denn es höbe sich selbst auf. (Wir stehen hier auf einem Puncte, von welchem aus wir den wahren Sinn unse-res zweiten Grundsatzes: dem Ich wird entgegengesetzt ein Nicht-Ich, und vermittelst des-selben die wahre Bedeutung unserer ganzen Wissenschaftslehre deutlicher darstellen kön-nen, als wir es bis jetzt irgendwo konnten. 

Im zweiten Grundsatze ist nur einiges absolut; einiges aber setzt ein Factum voraus, das sich a priori gar nicht aufzeigen lässt, sondern lediglich in eines jeden eigener Erfahrung. Ausser dem Setzen des Ich durch sich selbst soll es noch ein Setzen geben. Dies ist a priori eine blosse Hypothese; dass es ein solches Setzen gebe, lässt sich durch nichts darthun, als durch ein Factum des Bewusstseyns, und jeder muss es sich selbst durch dieses Factum darthun; keiner kann es dem anderen durch Vernunftgründe beweisen. ...

/ ... Absolut aber und schlechthin im Wesen des Ich gegründet ist es, dass, wenn es ein sol-ches Setzen giebt, dieses Setzen ein Entgegensetzen, und das Gesetzte ein Nicht-Ich seyn müsse. – Wie das Ich irgend etwas von sich selbst unterscheiden könne, dafür lässt kein höherer Grund der Möglichkeit irgend woher sich ableiten, sondern dieser Unterschied liegt aller Ableitung und aller Begründung selbst zum Grunde. Dass jedes Setzen, welches nicht ein Setzen des Ich ist, ein Gegensetzen seyn müsse, ist schlechthin gewiss: dass es ein sol-ches Setzen gebe, kann jeder nur durch seine eigene Erfahrung sich darthun. Daher gilt die Argumentation der Wissenschaftslehre schlechthin a priori, sie stellt lediglich solche Sätze auf, die a priori gewiss sind; Realität aber erhält sie erst in der Erfahrung. Wer des postu-lirten Factums sich nicht bewusst seyn könnte – man kann sicher wissen, dass dies bei keinem endlichen vernünftigen Wesen der Fall seyn werde, – für den hätte die ganze Wis-senschaft keinen Gehalt, sie wäre ihm leer; dennoch aber müsste er ihr die formale Rich-tigkeit zugestehen. 

Und so ist denn die Wissenschaftslehre a priori möglich, ob sie gleich auf Objecte gehen soll. Das Object ist nicht a priori, sondern es wird ihr erst in der Erfahrung gegeben; die objective Gültigkeit liefert jedem sein eigenes Bewusstseyn des Objects, welches Bewusst-seyn sich a priori nur postuliren, nicht aber deduciren lässt. ...)
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J. G. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, SW Bd. I, S.
252f.

 

Nota. - Das Faktum, von dem hier die Rede ist, hat er andernorts die Tathandlung genannt, und der eigenartige Ausdruck zeigt an, dass es um eine Erfahrungstatsache höchst eigner Art handelt. Denn sie wird nicht unmittelbar erfahren, sondern erst die Reflexion entdeckt im Nachhinein, dass sie... erfahren wurde? Nein, eher doch, dass sie erfahren worden sein muss. Zwar muss nicht jeder die Reflexion anstellen - das bleibt eine Sache seiner Freiheit; doch wenn er es tut, muss er es so tun.

Das klingt schwindelerregend? Natürlich, denn es wird Notwendigkeit aus Freiheit abge-leitet, wie sollte einem dabei nicht schwindeln? 

Es schwindelt mir nicht, sobald ich bedenke, dass hier in der Form diskursiver Rede, mit durch logische Schlüsse verketteten Begriffen, dargestellt werden soll, was allem Begreifen und logischen Schließen vorausgesetzt und zugrundegelegt werden muss. Es sieht daher so aus, als würde die Prämisse durch den Schluss begründet. Und in gewisser Weise ist es auch so: Der Schluss ist nämlich die historische Realität der Vernunft, von der die Vernunftkritik auszugehen hatte. Und in analytischer Regression geht sie auf deren allererste, nicht weiter hintergehbare Bedingung zurück: die Tathandlung, in der 'ein Ich sich als ein solches ge-setzt' hat. Wer immer die Realität des Vernunftsystems erfahren hat, muss auch die Erfah-rung der Tathandlung annehmen.

Trivial gesagt, Vernunft wird wie die Straßenverkehrsordnung durch nichts anderes gerecht-fertigt, als dass sie gilt.
JE,
10. 8. 20




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