Sonntag, 11. Februar 2024

Deine Freiheit ist ein praktisches Problem.

                                                                     zu Philosophierungen

Ich schätze Stefan Schleims Beiträge so, dass ich einige von ihnen in mein Blog übernom-men habe. Ich habe daher gewisse Erwartungen an ihn. In diesem Fall wird er ihnen nicht gerecht, und ich muss mich wundern.

Mir kam daher der Verdacht, er habe sich's absichtsvoll leicht gemacht. Frau Sohmens Beitrag ist so unbedarft, dass er ihn nicht im Ernst zum Ausgang einer philosophischen Erörterung nehmen konnte. Das hat er auch nicht getan, denn philosophisch sind seine Einlassungen nur zum Schein. 

Die Frage nach dem freien Willen ist so, wie er sie darstellt, eine Frage der praktischen Lebensklugheit

Der normale Sterbliche fragt sich im wirklichen Leben nicht, ob seine Entscheidung frei, sondern ob sie richtig war. Für die Richtigkeit hat er einen doppelten Standard: erstens seinen eigenen Vorteil, zweitens sein sittliches Urteil. Zwischen denen muss er abwägen, nicht zwischen frei oder fremdbestimmt. Frei würde er sich fühlen, wenn er ungeniert seinem Vorteil den Vorzug gäbe; durch sein sittliches Urteil fühlte er sich eher eingeengt. Bizarrerweise fühlt er sich aber auch leichter, wenn er letzterem gehorcht. Und wäre leich-ter nicht auch freier?

Ebensowenig ist die philosophische Frage der Willensfreiheit ein praktisches Problem für den Strafjuristen, da hat er Recht. Der muss in einem konkreten Fall ein Urteil fällen und nicht im Seminar einen Vortrag halten. Statt abstrakt um den freien Willen, geht es da um die Frage persönlicher Zurechenbarkeit. Im Seminar hat er sein Fach allerdings studiert, und in Sachen Rechtsdogmatik geht es allerdings um die Willensfreiheit als doktrinalen Grund-satz, denn ohne sie wäre die Frage der Zurechenbarkeit ja gar nicht zu formulieren.

Und an dieser Stelle schwillt mir langsam der Hals. Philosophische Fragen seien nicht prak-tisch? An sich selbst sind sie das nicht. Aber praktische Fragen sind vielleicht durch Um-stände bedingt, die ihrerseits nicht nur, aber auch philosophisch zu beurteilen sind. 

Was für ein Rechtssystem wir uns geben, ist natürlich ein praktische Frage. Und praktisch sei alles, was... durch Freiheit möglich ist, sagt Kant (der in oben erwähnten Seminaren nicht zu knapp vorkommen dürfte). Wir haben uns unser Rechtssystem - unsere politische Ver-fassung - aus Freiheit gegeben, weil sie nur so vernünftig sein kann; doch vernünftig kann ein Rechtssubjekt nur handeln, wenn es in seiner Willensentscheidung frei ist. Wie kann Stephan Schleim über Freiheit schreiben, ohne dass das Wort Vernunft ein einziges Mal vorkommt? 

Als liberum arbitrium war die Willensfreiheit jahrhundertelang ein theologisches Thema - kein rechtliches, kein philosophisches. Nicht um Strafe ging es, sondern ob man der Verge-bung würdig sei. Da geht es um Schuld wohl auch, doch nur unter manchem andern. Be-sondere Virtuosen auf dem Gebiet waren die Jesuiten, ihr Lieblingsfach was Kasuistik: nicht das abstrakt-Allgemeine, sondern die tausend denkbaren Einzelfälle.

Freiheit, Vernunft und Gleichberechtigung gehören zusammen. Philosophisch mag man streiten darüber, wie. Doch ein freiheitlicher Rechtsstaat ist nur möglich, wo sie als ein und einziger Grund-Satz verfassungsmäßige Geltung haben. Nur wer frei ist, dem kann Ver-nunft angemutet werden, und nur von dem, der vernünftig ist, kann man Rechenschaft verlangen; und wenn alle vernünftig und alle rechenschaftspflichtig sein sollen, müssen sie alle frei sein - und in dieser und jeder andern Hinsicht gleich berechtigt.

Das gedankliche Fundament der westlichen Zivilisation ist das Subjekt. Es muss als frei ge-dacht werden, weil es sonst nicht vernünftig sein könnte; und als vernünftig, weil es anders nicht als frei gedacht werden kann. Ob es faktisch so ist, kann im Einzelfall geprüft werden. Doch dass es so sein soll, ist der Maßstab, an dem die Einzelälle zu prüfen sind.

Das ist nicht theoretisch, sondern ist in öffentlicher Hinsicht das Praktischste, was es gibt.

Vernunft setzt mich auch insofern frei, als ich meine Meinungen und also auch die kogniti-ven Ergebnisse meiner Sozialisation reflektieren kann. Das ist auch für den Staatsanwalt ein praktischer Gesichtspunkt.

3. 26. 2021 

 

Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE  

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