Samstag, 22. Februar 2025

Ist Vernunft die prästabilierte Harmonie der Vernunftwesen?

Botticelli, aus Maria mit den Engeln                  zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Das Handeln des freien Wesens außer mir, auf welches so geschlossen ist, verhält sich zu dem mir angemuteten Handeln, wie der angefangene Weg zu der Fortsetzung desselben. Es ist mir gegeben eine Reihe der Glieder, durch welche der Zweck bedingt ist; eine Reihe, die ich vollenden soll. Zuförderst ist sonach alles Handeln freier Wesen ein Hindurchgehen durch unendlich viele Mittelglieder, die bloß durch die Einbildungskraft gefasst werden, wie bei der Bewegung durch unendlich viele Punkte. Es fordert mich jemand auf heißt: Ich soll an die gegebene Reihe des Handelns etwas anschließen; er fängt an und geht bis auf einen gewissen Punkt, von da soll ich anfangen. 

Nun liegt hier ein unendliches Mannigfaltiges der Handlungsmöglichkeiten, welche bloß durch Einbildungskraft zusammengefasst werden. Denn das Handeln mehrerer Vernunft-wesen ist eine einzige durch Freiheit bedingte Kette. Die ganze Vernunft hat nur ein einzi-ges Handeln. Ein Individuum fängt an, ein anderes greift ein und so fort, und so wird der ganze Vernunftzweck durch unendlich Viele bearbeitet und ist das Resultat von der Einwir-kung Aller. Es ist dies keine Kette physischer Notwendigkeit, weil von Vernunftwesen die Rede ist. Die Kette geht immer in Sprüngen, das Folgende ist immer durchs Vorher/ge-hende bedingt, aber nicht bestimmt und wirklich gemacht. (vid. Sittenlehre) Die Freiheit besteht darin, dass aus allen möglichen nur ein Teil an die Kette angeschlossen werde.
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J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 198 2, S. 232f.



Nota I.  - "Die ganze Vernunft hat nur ein einziges Handeln." Ist das eine Vorhersage ex ante? Oder ist es eine Interpretation ex post? Wo befinden wir uns: Ganz am Anfang der "Kette", und er verspricht uns erst: So wird es sein? Oder schon mittendrin in der Kette: Wir haben schon ein ganzes Stück Weges geschafft und können schon annehmen: Hier geht es weiter zum Vernunftzweck...? – Das eine ist die dogmatische Verkündigung einer (schon jetzt) prästabilierten Harmonie, für die er eine Berechtigung nicht nur nicht nachgewiesen, sondern nicht einmal problematisch reklamiert hat. Das andre ist eine Art Pascal'sches pari: Ich will so handeln, als ob es Vernunft gäbe, dann werde ich wenigstens vernunftgemäß ge-handelt haben.



Oder mit den Worten des Manns ohne Eigenschaften: "Ich schwöre Ihnen", erwiderte Ulrich ernst, "dass weder ich noch irgendjemand weiß, was der, die, das Wahre ist; aber ich kann Ihnen versichern, dass es im Begriff steht, verwirklicht zu werden!" "Sie sind ein Zyni-ker!" erklärte Direktor Fischl und eilte davon.

16. 10. 15


Nota II. - Zwei Auffassungen der Vernunft sind möglich, beide hat Fichte jeweils vertreten, offenbar ohne sich ihrer Unvereinbarkeit bewusst zu werden: Erstens, Vernunft als Gehalt ist immer da gewesen, woher auch immer sie kam, und Sache des zur Vernunft berufenen Menschen ist es, ihre Gehalte nicht nur in der Vorstellung, sondern in seinen Handlungen in der Sinnenwelt auf zufinden und zu realisieren. Zweitens, Vernunft ist die Tätigkeit der Vernunftwesen selbst, und nur durch sie werden sie, machen sie sich zu solchen. Hier ist der Gehalt nicht seit Ewigkeit gegeben, sondern problematisch als Projekt auf gegeben: das un-endliche Übergehen vom unbestimmt-Bestimmbaren zur Bestimmung.

In der ersten Auffassung steht der Gehalt als Bestimmtheit schon immer fest. In der zwei-ten Auffassung ist der Gehalt durch Fortbestimmen immer erst noch zu er
finden. Auf dem Standpunkt der zweiten ist Vernunft nur möglich als gemeinsames Handeln einer Reihe ver-nünftiger Wesen. Auf dem Standpunkt der ersten müsste auch einer für sich allein vernünf-tig sein können.

Vom Standpunkt der Transzendentalphilosophie ist nur die eine Auffassung möglich. Die andere wäre dogmatische Metaphysik auf mystischem Untergrund
.
*)  gr. problêma heißt Aufgabe

 27. 3. 19

 

Nota III. -  "Auf dem Standpunkt der ersten müsste auch einer für sich allein vernünftig sein können" - wenn nämlich die Vernunft ihrem Gehalte nach vorherbestimmt ist, kann es nur ein Zufall sein, wenn der eine ihr auf seinem Wege nicht nur begegnet, sondern sie als eine solche auch erkennt; aber der andere nicht. 

Oder waltet eine unsichtbare Hand? Wessen Hand wäre das? Auf jeden Fall führte er sie mit Willkür. Es gäbe dann aber keinen Anlass, ihre Griffe für vernünftiger zu erachten, als die irgendeines andern. Denn wenn ich ihn für GOtt hielte, wäre die ganze Transzendentalphi-lophie für die Katz. So hat Jacobi die Sache verstanden, und ihm hat Fichte folgen wollen, aber denn doch nicht so ganz.
JE, 9. 6. 21

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