Sonntag, 16. Februar 2025

Der Begriff des Menschen ist der einer Gattung.

Leonardo                    zu Wissenschftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Es ist jetzt erwiesen, was erwiesen werden sollte. Das / vernünftige Wesen kann sich nicht setzen als ein solches, es geschehe denn auf dasselbe eine Aufforderung zum freien Han-deln, ... Geschieht aber eine solche Aufforderung zum Handeln auf dasselbe, so muss es notwendig ein vernünftiges Wesen außer sich setzen als Ursache derselben, also überhaupt ein vernünftiges Wesen außer sich setzen, ... 

Der Mensch (so alle endliche
[vernünftigen] Wesen überhaupt) wird nur unter Menschen ein Mensch. Und da er nichts Anderes sein kann denn ein Mensch und gar nichts sein würde, wenn er dies nicht wäre - sollen überhaupt Menschen sein, so müssen mehrere sein. 

Dies ist nicht eine willkürlich angenommene, auf die bisherige Erfahrung oder auf andere Wahrscheinlichkeitsgründe aufgebaute Meinung, sondern es ist aus dem Begriff des Men-schen streng zu erweisende Wahrheit. Sobald man diesen Begriff vollkommen bestimmt, wird man von dem Denken eines Einzelnen aus getrieben zur Annahme eines zweiten, um den ersten erklären zu können. Der Begriff des Menschen ist sonach gar nicht Begriff eines Einzelnen, denn ein solcher ist undenkbar, sondern der einer Gattung.

Die Aufforderung zur freien Selbsttätigkeit ist das, was man Erziehung nennt. Alle Men-schen müsssen zu Menschen erzogen werden, außerdem würden sie nicht Menschen. 


Es dringt sich hierbei jedem die Frage auf: Wenn es notwendig sein sollte, einen Ursprung des ganzen Menschengeschlechtes und also ein erstes Menschenpaar anzunehmen - und es ist dies auf einem gewissen Reflexionspunkte allerdings notwendig -: Wer erzog denn das erste Menschenpaar? Erzogen mussten sie werden, denn der geführte Beweis ist allgemein. Ein Mensch konnte sie nicht erziehen, da sie die ersten Menschen sein sollten. Also ist es notwendig, dass sie ein anderes vernünftiges Wesen erzogen
[hat], das kein Mensch war - es versteht sich, bestimmt nur so weit, bis sich sich selbst unter einander erziehen konnten. Ein Geist nahm sich ihrer an, ganz / so, wie es eine alte ehrwürdige Urkunde vorstellte, welche überhaupt die tiefsinnigste, erhabenste Weisheit enthält, und Resultate aufstellt, zu denen alle Philosophie am Ende doch wieder zurückkommt.
_______________________________________________________________________J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, Bd. III,  S. 38ff. 


Nota I. - Kant wollte dem Wissen eine Grenze ziehen, um Platz für den Glauben zu schaf-fen. Da aber der Glauben nicht Sache der Wisssenschaft ist, machte er an der Grenze selber Halt. Das tut Fichte hier nicht. Er verkündet dem Leser vielmehr, was er glauben solle, und welches die Quelle ist. Der kritische Leser wird sagen: Das kann sein Ernst ja wohl nicht gewesen sein. Man könnte vermuten, er habe vorab der Kritik von theologischer Seite in den Weg treten wollen, was ja auch von der ewähnten Kant-Stelle für möglich gehalten wurde. Dass er persönlich obskurantistischen Spekulationen nicht abgeneigt war, hat er freilich vorher und nachher bezeugt. In seine wissenschaftliche, kritische und transzen-dentalphilosophische Arbeit hat er es aber nur an dieser Stelle einfließen lassen (soweit ich bisher weiß; aber ich bin misstrauisch geworden).

2. 2. 19

Nota II. - Die Stelle steht nicht in einer philosophischen Darstellung der Wissenschaftsleh-re, sondern in einer Abhandlung über das Naturrecht "nach Prinzipien der...". Sie entwickelt das Argument nicht selber, sondern referiert es bloß.

In der explizit genetischen Herleitung - WL nova methodo - wird in abstracto aus der freien Handlung, durch die ein Ich 'sich setzt', indem es sich ein/em NichtIch entgegensetzt, re-konstruiert, wie jenes Ich Schritt für Schritt auf dem Weg der Vernunft fortschreitet. Es soll bis an den Punkt gelangen, wo es in sich und wir in ihm ein wirkliches Ich erkennen kann: nämlich eines, das zur Vernunft nicht erst bestimmt, sondern bereits gelangt ist. 'Die Ver-nunft' als Vermögen oder die intelligible Welt als Topos existiert in der Wirklichkeit als das Setzen allgemeingültiger Zwecke. Allgemein gültig heißt gültig in der Reihe vernünftiger Wesen. Das Ich erkennt sich als ein vernünftiges, indem es die Aufforderung aus der ver-nünftigen Gesellschaft vernimmt und sich handelnd als Teil einer Reihe findet. -

Wir wissen, dass die Wissenschaftslehre als Vernunftkritik begonnen hat. Die historische Realität der Vernunft ist ihr Ausgangspunkt, zu dem sie in ihrer Arbeit der kritischen Re-konstruktion zurückfinden muss. Das ist der Zirkel, der in obiger Stelle aufscheint: Die Vernunft muss - und kann allein - sich selbst begründen. Ihr Sinn ist Vergesellschaftung. So war es am historischen Ausgangspunt der Kritik und anders kann es nicht sein am rekon-struierten Schlusspunkt der Wissenschaftslehre.

Dass der Sinn der Vernunft Vergesellschaftung ist, ist ihr Qualificandum. Es steht zu nichts im Verhältnis und ist selber ohne Form. Es wurde durch die kritische Analyse aus der Reihe der Bedingungen ausgesondert und ihr qua reines Ich zu Grunde gelegt. Dass es in den komplementären formalen Verfahren der kritischen Analyse und der rekonstruktiven Syn-these nicht auftaucht, hat seinen methodologischen Grund. Und dass Fichtes Einführung der 'Aufforderung durch die Reihe vernünftiger Wesen' auf den ersten Blick als gewaltsam auf-gefasst werden kann, ist verständlich. Sie ist das eigentliche Geheimnis der analytisch-synthetischen Methode.
15. 8. 21

Nota III. - Sonst in pädagogischen Dingen ein entschiedener Anhänger Rousseaus, stellt F. sich hier ebenso energisch auf den Standpunkt von dessen Widersacher Herder: 'Nur durch Erziehung wird der Mensch zum Menschen.' Es ist die Idee von einer zweiten, selbstge-machten Natur des Menschen, die seine erste, physische Natur überlagert und umgeprägt hat; und die allein die Eingangsthese rechtfertigen kann. Die aber lässt F. fort! In seinem Schwanken, ob wohl der Mensch seine Vernünftigkeit selbstgemacht, oder ob er die Ver-nunft von oben 'vernommen' habe, entscheidet er sich hier unmissverständlich für die kre-ationistische Antwort.

Wenn Fichte später sagt, "Aus nichts wird nichts", um die Ungewordenheit, Ewigkeit und Vorbestimmtheit der Vernunft zu erweisen, hat er sie freilich als Substanz ihrem Wirklich-werden vorausgesetzt. Doch kann sie ja in ihrer Wirklichkeit nichts anderes sein als ver-nünftiges Handeln.
 Zu dem kann man nicht nur, sondern kann man allein sich selbst be-stimmen; nicht bloß zum Handeln überhaupt, sondern gerade zu seiner Vernünftigkeit, so haben wir es von ihm gelernt.
20. 2. 16

Nota IV. - Die Leistungen des transzendentalen Subjekts hätten ihre Basis in der Natur-geschichte der Menschengattung, sagt Jürgen Habermas.* Wo die Vernunft herkommt, ist letzten Endes dasselbe wie die Frage, wie sich im Ausbildungsprozess von Homo sapiens die Fähigkeit entwickelt hat, Werturteile, nämlich qualifizierende Prädikate für Erscheinun-gen zu finden, die ohne Bezug auf die Erhaltungsfunktionen des individuellen und des Gat-tungslebens sind. Das geht nicht ohne Rückgriff auf empirische Befunde der Paläanthropo-logie. Nein, das ist nicht selber Transzendentalphilosophie; dort kommt nichts Empirisches vor. Transzendentalphilosophie, in der Empririschesnicht vorkommt, war es aber, was diese Fragestellung ermöglicht hat: Transzendentalphilosophie ist nichts als kritisch. Die Antwor-ten müssen hingegen von den reellen Wissenschaften aufgefunden werden.
*)
in Technik und Wissenschaft als 'Ideologie', Frankfurt/M. 1969, S. 161
1. 3. 22

Nota V. - Die Gattung wurde von Feuerbach in die Philosophie eingeführt, natürlich anstel-le des bis dahin üblichen der Mensch; anstelle insbesonders aber auch des Weltgeists, zu dem Hegel das Absolute Ich der Kritischen Idealismus aufgeblasen hatte. Er fasste sie dog-matisch als Substanz auf und konnte sein daraus entwickeltes philosophisches System Mate-rialismus nennen, weil es mit dem "Idealismus" der Linkshegelianer aufgeräumt hätte - den er freilich ebenso ontologisch auffasste wie alle, die aus der hegelschen Schule hervorgegan-gen sind. Noch Marx und Engels werden bis an ihr Lebensende unter Idealismus spiritua-listische Ontologie verstehen und bekämpfen. Transzendentalphilosophie ließen sie unbe-achtet.
 JE 


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Das wirkliche Subjekt ist gespalten.

  Soehnée                                                                                                                 zu Philosophieru...