
Es
ist jetzt erwiesen, was erwiesen werden sollte. Das / vernünftige Wesen
kann sich nicht setzen als ein solches, es geschehe denn auf dasselbe
eine Aufforderung zum freien Han-deln, ...
Geschieht aber eine solche Aufforderung zum Handeln auf dasselbe, so
muss es notwendig ein vernünftiges Wesen außer sich setzen als Ursache
derselben, also überhaupt ein vernünftiges Wesen außer sich setzen, ...
Der Mensch (so alle endliche [vernünftigen]
Wesen überhaupt) wird nur unter Menschen ein Mensch. Und da er nichts
Anderes sein kann denn ein Mensch und gar nichts sein würde, wenn er
dies nicht wäre - sollen überhaupt Menschen sein, so müssen mehrere sein.
Dies ist nicht eine willkürlich angenommene, auf die bisherige Erfahrung oder auf andere Wahrscheinlichkeitsgründe
aufgebaute Meinung, sondern es ist aus dem Begriff des Men-schen streng
zu erweisende Wahrheit. Sobald man diesen Begriff vollkommen bestimmt,
wird man von dem Denken eines Einzelnen aus getrieben zur Annahme eines
zweiten, um den ersten erklären zu können. Der Begriff des Menschen ist
sonach gar nicht Begriff eines Einzelnen, denn ein solcher ist
undenkbar, sondern der einer Gattung.
Die Aufforderung zur freien Selbsttätigkeit ist das, was man Erziehung
nennt. Alle Men-schen müsssen zu Menschen erzogen werden, außerdem
würden sie nicht Menschen.
Es dringt sich hierbei jedem die Frage auf: Wenn es notwendig sein sollte, einen Ursprung des ganzen Menschengeschlechtes
und also ein erstes Menschenpaar anzunehmen - und es ist dies auf einem
gewissen Reflexionspunkte allerdings notwendig -: Wer erzog denn das
erste Menschenpaar? Erzogen mussten sie werden, denn der geführte Beweis
ist allgemein. Ein Mensch konnte sie nicht erziehen, da sie die ersten
Menschen sein sollten. Also ist es notwendig, dass sie ein anderes
vernünftiges Wesen erzogen [hat], das kein Mensch war - es versteht sich, bestimmt nur so weit, bis sich
sich selbst unter einander erziehen konnten. Ein Geist nahm sich ihrer
an, ganz / so, wie es eine
alte ehrwürdige Urkunde vorstellte, welche überhaupt die tiefsinnigste,
erhabenste Weisheit enthält, und Resultate aufstellt, zu denen alle
Philosophie am Ende doch wieder zurückkommt.
_______________________________________________________________________J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, Bd. III, S. 38ff.
Nota I. - Kant wollte dem Wissen eine Grenze ziehen, um Platz für den Glauben zu schaf-fen. Da aber der Glauben nicht Sache der Wisssenschaft ist, machte er an der Grenze selber Halt. Das tut Fichte hier nicht. Er verkündet dem Leser vielmehr, was
er glauben solle, und welches die Quelle ist. Der kritische Leser wird
sagen: Das kann sein Ernst ja wohl nicht gewesen sein. Man könnte
vermuten, er habe vorab der Kritik von theologischer Seite in den Weg
treten wollen, was ja auch von der ewähnten Kant-Stelle für möglich
gehalten wurde. Dass er persönlich obskurantistischen Spekulationen
nicht abgeneigt war, hat er freilich vorher und nachher bezeugt. In seine wissenschaftliche, kritische und transzen-dentalphilosophische Arbeit hat er es aber nur an dieser Stelle einfließen lassen (soweit ich bisher weiß; aber ich bin misstrauisch geworden).
2. 2. 19
Dass der Sinn der Vernunft Vergesellschaftung ist,
ist ihr Qualificandum. Es steht zu nichts im Verhältnis und ist selber
ohne Form. Es wurde durch die kritische Analyse aus der Reihe der
Bedingungen ausgesondert und ihr qua reines Ich
zu Grunde gelegt. Dass es in den komplementären formalen Verfahren der
kritischen Analyse und der rekonstruktiven Syn-these nicht auftaucht,
hat seinen methodologischen Grund. Und dass Fichtes Einführung der
'Aufforderung durch die Reihe vernünftiger Wesen' auf den ersten Blick
als gewaltsam auf-gefasst werden kann, ist verständlich. Sie ist das
eigentliche Geheimnis der analytisch-synthetischen Methode.
15. 8. 21
Nota III. -
Sonst in pädagogischen Dingen ein entschiedener Anhänger Rousseaus,
stellt F. sich hier ebenso energisch auf den Standpunkt von dessen
Widersacher Herder:
'Nur durch Erziehung wird der Mensch zum Menschen.' Es ist die Idee von
einer zweiten, selbstge-machten Natur des Menschen, die seine erste,
physische Natur überlagert und umgeprägt hat; und die allein die
Eingangsthese rechtfertigen kann. Die aber lässt F. fort! In seinem Schwanken,
ob wohl der Mensch seine Vernünftigkeit selbstgemacht, oder ob er die
Ver-nunft von oben 'vernommen' habe, entscheidet er sich hier
unmissverständlich für die kre-ationistische Antwort.
Wenn Fichte später sagt, "Aus nichts wird nichts", um die Ungewordenheit, Ewigkeit und Vorbestimmtheit der Vernunft zu erweisen, hat er sie freilich als Substanz ihrem Wirklich-werden vorausgesetzt. Doch kann sie ja in ihrer Wirklichkeit nichts anderes sein als ver-nünftiges Handeln. Zu
dem kann man nicht nur, sondern kann man allein sich selbst be-stimmen;
nicht bloß zum Handeln überhaupt, sondern gerade zu seiner
Vernünftigkeit, so haben wir es von ihm gelernt.
20. 2. 16
Nota IV. - Die Leistungen des transzendentalen Subjekts hätten ihre Basis in der Natur-geschichte der Menschengattung, sagt Jürgen Habermas.*
Wo die Vernunft herkommt, ist letzten Endes dasselbe wie die Frage, wie
sich im Ausbildungsprozess von Homo sapiens die Fähigkeit entwickelt
hat, Werturteile, nämlich qualifizierende Prädikate
für Erscheinun-gen zu finden, die ohne Bezug auf die
Erhaltungsfunktionen des individuellen und des Gat-tungslebens sind. Das
geht nicht ohne Rückgriff auf empirische Befunde der
Paläanthropo-logie. Nein, das ist nicht selber
Transzendentalphilosophie; dort kommt nichts Empirisches vor.
Transzendentalphilosophie, in der Empririschesnicht vorkommt, war es
aber, was diese Fragestellung ermöglicht hat: Transzendentalphilosophie ist nichts als kritisch. Die Antwor-ten müssen hingegen von den reellen Wissenschaften aufgefunden werden.
*) in Technik und Wissenschaft als 'Ideologie', Frankfurt/M. 1969, S. 161
1. 3. 22
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