
Eine Intelligenz, die so handelt, wie es in der Wissenschaftslehre dargestellt ist, soll vernünf-tig heißen.
Zur westlichen Großmacht stieg die Vernunft im siebzehnten Jahrhundert, genau: nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges auf. Sie sollte an die Stelle der Glaubensbekenntnisse tre-ten, die Europa in Zwietracht und Verheerung geführt hatten.
Zu uneingeschränkter Herrschaft wollte die französische Revolution sie bringen: Im No-vember 1793 wurde in Notre Dame de Paris statt der christliche Kulte die Fête de la Raison ge-feiert. Doch dem Wohlfahrtsausschuss grauste vor ihrer atheistischen Tendenz und setz-te ihr im Juni 1794 die Fête le l'Être Suprème entgegen - die Vernunft nicht länger als han-delndes Subjekt, sondern als Attribut der Gottheit.
Da hatte in Deutschland die Vernunftkritik bereits begonnen: die Reflexion der Vernunft auf sich selbst, die Frage nach ihrer Reichweite und ihren Bedingungen. Kant war beim Apriori als einem Vorauszusetzenden steckengeblieben. Die Wissenschaftslehre führt auch dieses auf den Voraussetzenden selbst zurück: das tätige Ich. Doch leider ist die Wissen-schaftslehre ihrerseits im Atheismusstreit steckengeblieben. Aber der hat sich erübrigt und nichts hindert uns, sie wieder aufzunehmen.
27. 11. 17
Es gäbe keine Wahrheit, sondern nur Wahrheiten, lautet eine zeitgenössische Plattitüde.
Die Wissenschaftslehre sagt, eine andere Wahrheit als die Verunft selber könne es - 'für ein endliches Bewusstsein' - nicht geben.
Der Schlaumeier sagt, es gebe keine Vernunft, sondern nur Vernünfte. Anything goes. Wenn dem so wäre, könnte keiner mit keinem aus Gründen argumentieren, denn welche Gründe zugrunde zu legen sind, obliegt der Willkür und dem Zufall. Sie könnten nicht diskutieren, sondern nur säuseln oder schreien oder singen.
Der bloße Umstand, dass einer einen andern mit Argumenten zu überzeugen versucht, be-ruht, ob er es zugibt oder nicht, auf der Voraussetzung, dass es Gründe - oder doch wenig-stens einen - gibt, die der eine dem andern nicht bestreiten kann.
Wenn es so ist, müssten sie - oder er, der allen anderen zu Grunde liegt - sich in allem, was wir zu wissen meinen, auffinden lassen.
Die Wissenschaftslehre behauptet, diesen einen Grund freigelegt zu haben. Jeder Satz, der sich aussprechen lässt, folgt dem Schema ich prädiziere, dass... Ob mir oder meinem Ge-genüber das im Moment des Sprechens klar ist, spielt keine Rolle. Jeder Dritte, der uns zu-hört, wird es aber so wahrnehmen, und ich werde es ihm hernach nicht bestreiten können. Alles, was wir wissen, beruht darauf, dass Einer sich das Vermögen des Urteilens zuge-schrieben hat: Ein Ich hat ipso facto sich gesetzt. Davon ist jeder, der mit mir streiten mag, ausgegangen.
Wer immer meint, es gäbe keine Wahrheit, sondern nur Wahrheiten, und es gäbe keine Ver-nunft, sondern nur Vernünfte, müsste mit mir bis an diesen Punkt zurückkehren; dann se-hen wir weiter.
5. 3. 19
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