Montag, 10. Februar 2025

Vom ästhetischen Trieb zum Schöpfungsvermögen.

Gauguins Palette                                         aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Sehen Sie in diesem Beispiele eine kurze Geschichte der Entwickelung unseres ganzen ästhetischen Vermögens. Während der ruhigen Betrachtung, die nicht mehr auf die Er-kenntnis dessen, was längst erkannt ist, absieht, sondern die gleichsam nochmal zum Über-flusse an den Gegenstand geht, - entwickelt, unter der Ruhe der Wissbegierde und des be-friedigten Erkenntnistriebes, in der unbeschäftigten Seele sich der ästhetische Sinn. ...


Von dieser noch an dem Faden der Wirklichkeit fortlaufenden Betrachtung, wo es uns schon nicht mehr um die wirkliche Beschaffenheit der Dinge, sondern um ihre Ueberein-stimmung mit unserem Geiste zu tun ist, erhebt sich dann bald die dadurch zur Freiheit erzogener Einbildungskraft zur völligen Freiheit; einmal im Gebiete des ästhetischen Trie-bes angelangt, bleibt sie in demselben, auch da, wo er von der Natur abweicht, und stellt Gestal- ten dar, wie sie gar nicht sind, aber nach der Forderung jenes Triebes seyn sollten: und dieses freie Schöpfungsvermögen heißt Geist. Der Geschmack beurtheilt das Gege-bene, der Geist erschafft. ... Man kann Geschmack haben ohne Geist, nicht aber Geist ohne Ge/schmack.

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J. G. Fichte, Über Geist und Buchstab in der Philosophie [1794] SW VIII , S. 290f.


Nota. - Fichte versteht unter Trieb nicht eine physiologisch bestimmte Energie; für ihn ist das menschliche Vermögen "eins". Aber es kann sich mannigfaltig an diesen oder jenen Gegenstand verwenden. Zuerst gestaltet es sich, zwecks Befriedigung seiner physischen Notdurft: zum Erkenntnistrieb. Doch darin erschöpft es sich nicht. Was darüber hinaus-schießt, sucht nach einem Gegenstand, worauf es sich verwenden kann, und wo es nichts vorfindet, er findet es selber. Das nennt er den ästhetischen Trieb.
JE,
13. 4. 20



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