Freitag, 27. Oktober 2023

Was heißt kritischer Idealismus?

William Scott, Progression;      zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkrittik

Hierin dient nun die Wissenschaftslehre der Kantischen Philosophie zur Erläuterung und tieferen Begründung. Kant wollte auch nichts wissen von einem NichIch ohne Ich und umgekehrt; beide sind kritischer Idealismus und unterscheiden sich dadurch von aller vor-kantischen Philosophie.

Der kritische Idealismus ist kein Materialismus oder Dogmatismus. Kein Materialismus, der von Dingen ausgeht, kein Idealismus, der von einem Geiste als Substanz ausgeht. Kein Dualismus, der vom Geist und von Dingen an sich als abgesonderten Substanzen ausgeht. Der kritische Idealismus geht aus von ihrer Wechselwirkung als solcher, oder als Akzidenz beider (Substanz und Akzidenz sind Formen unseres Denkens.) Dadurch wird er der Notwendigkeit überhoben, eines von beiden zu leugnen. Der Materialismus leugnet das Geistige, der Idealismus die Materie. 

Dieses System hat auch nicht die unauflösliche Aufgabe, zu vereinigen, was nicht zu verei-nigen ist, nachdem es einmal getrennt worden, wie der Dualismus; es findet beide verei-nigt.

Auf diese Wechselwirkung kommt es der Wissenschaftslehre vorzüglich an. (Am besten ver-standen von Herrn Hofrat Schiller in den Briefen über ästhetische Erziehung in den Horen.) Das Ich ist nur anschaubar in der Wechsel-wirkung mit dem NichIch. Es kann außer dieser Verbindung gedacht werden, aber dann ists nicht wirklich, es ist dann nur eine notwendige Idee. Aber das NichtIch kann nicht gedacht werden, außer in der Ver-nunft. Das Ich ist das Erste, das NichtIch das Zweite, drum kann man das Ich abgeson-dert denken, aber nicht das Nicht-Ich.
______________________________________________________________________  J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, S. 61f.



Nota. - Positio und negatio, Sein und Nichts haben nicht denselben (onto)logischen Rang. Man muss das eine vor dem andern denken, es lässt sich nicht umkehren. Die Passivität lässt sich erst vorstellen, nachdem die Aktivität angeschaut wurde; erst das Tun, dann das Lassen.

Der kritische Idealismus geht aus von der Anschauung des Handelns; erst aus ihr wird auf Ich und NichtIch geschlossen: aber das Eine als vorausgehend dem Andern.
JE 21. 8. 16

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