Ein Urteil ergeht stets in Hinblick auf einen vorausgesetzten Zweck.
Wir urteilen alle ein paar tausendmal am Tag. Die Zwecke, die wir voraussetzen, sind uns durch unsern bürgerlichen Alltag vorausgesetzt; wir brauchen uns ihrer nicht bewusst zu werden und müssen sie nicht rechtfertigen. Genauer gesagt: Aus ebendiesem Grund kön-nen wir sie nicht rechtfertigen. Erst wenn wir es müssen, können wir es.
Wir müssen es erst, wenn wir es uns selbst vorschreiben. Wir schreiben es uns selbst vor erst, wenn wir vor einer Aufgabe stehen, die uns nicht geläufig ist. Dann müssen wir be-stimmen, welchen Zweck wir verfolgen - so selbstverständlich-unbestimmt er vorher auch war.
Den Zweck bestimmen ist stets nur möglich durch Entgegensetzen: Will ich dies oder das? Die Frage ist nicht, ob das an sich Gegensätze sind, die einander ausschließen; son-dern Faktum ist, dass ich um des Bestimmens willen die Entgegensetzung brauche. Die 'Logik' des Bestimmens ist vorderhand pragmatisch. Wer sagt, es sei nicht alles schwarz oder weiß, es gebe nicht nur entweder-oder, man müsse die Enden zusammenführen, der will sich ums Bestimmen drücken.
Denn ob er die Entgegengesetzten dauerhaft als Begriffe behält oder nach der Bestim-mung ihres momentanen Zweckes in die Ablage tut, ist zunächst so offen wie die Frage, ob er sie dauerhaft neben einander aufbewahrt: Dann blieben sie freilich in einem Gegen-satz; lägen sie aber verstreut weit auseinander, so mag einer so brauchbar sein wie der an-dere. Denn die Begriffe sind ihrerseits bestimmt durch den Zweck, dem sie dienen.
Im tätigen Leben ist der Zweck, das prâgma, meist nächstliegend und unmittelbar. Die Bestimmung und die Entgegensetzung, auf denen sie beruht, könnten, sobald sie ihren Dienst getan haben, beiseitegelegt werden. Doch da die Erfahrung lehrt, dass man immer wieder auf unerwartete Problem stößt oder solche, die immerhin so aussehen, hat es sich bewährt, die gut sortiert aufzubewahren, bis sie vielleicht wieder gebraucht werden.
Ob man diesen Begriffsvorrat dann schließlich dazu nutzt, ein Bild der Welt daraus zu zeichnen, ist eine ganz andere Frage. Es wird historisch schon so gewesen sein, dass die angesammelten Begriffe auf die mehr oder minder mythischen Berichte von einer fernen Vergangenheit aufgetragen wurden und sich so im Laufe der Jahrzehntausende quasi von selbst ein Gebäude konturierte.
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Sprache ist zuerst Medium der Mitteilung; Gleitmittel gesellschaftlichen Verkehrs. Doch gesellschaftlicher Verkehr ist von Anbeginn schon mehr als Herstellung und Verteilung von Lebensmitteln. Je weiter und je komplexer er sich entwickelt, umso abstrakter die sprachlichen Ausdrücke. Aus bloßen Nominis (wenn sie je 'bloß' gewesen sein sollten) werden Begriffe, und indem ihre Begrifflichkeit in den Nominis untergeht, schwindet die Erinnerung an ihre Zweckhaftigkeit: so als gehörten die Zwecke 'den Dingen selbst' als ihre Bestimmung an. Wohl werden die Nomina vor den Allgemeinbegriffen 'da' gewesen sein; doch die Zweckhaftigkeit, die sie erst zu besonderen und schließlich zu allgemeinen Begriffen ge-macht hat, war 'logisch' vor ihnen da.
Logik stammt, wie das Wort zu erkennen gibt, aus der Sprache. Logisch ist, was sich mit der Sprache machen lässt. Das setzt voraus die ursprüngliche Doppelung von Namen und zweckhafter Bedeutung. Man kann von den Bedeutungen absehen; dann wird Logik for-mal. Doch das ist eine künstliche Operation außerhalb des organischen Sprachzusammen-hangs. Diese Operation mag ihrerseits einem vertretbaren Zweck dienen; doch den muss sie durch ihre Leistung rechtfertigen, denn 'logisch' gerechtfertig ist sie nicht eo ipso. Ohne den Bezug auf mögliche Zwecke sind Begriffe Schall und Rauch (oder leer, wie einer sagte).
Man mag Logik soweit formalisieren, dass Zweck, Bestimmung und Bedeutung an den Begriffen unkenntlich werden. Ob das seinerseits einen Zweck oder eine Bedeutung hat, wird man sehen. Dass sie aber aus der Bedeutng alias den möglichen Zwecken herkommt, lässt sich nicht vertuschen. Von ihnen zu abstrahieren bedarf einer pragmatischen Be-gründung.
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Das Paradox des Urteilens scheint nur als ein solches. Der Urteilende ergreift nicht vor-liegede Gründe und stellt sich dann darüber, was allerdings anmaßend wäre; sondern er setzt selber Zwecke, die er sich zum Maßstab nimmt.
Ein notwendiger Nachtrag:
Immer wieder schreibe ich, dass die Wissenschaftslehre keine Nacherzählung der tatsäch-lichen Geistesgeschichte der Menschheit ist, sondern ein Schema der Vernunft; und dann vergesse ich es doch gelegentlich, so wie oben.
Das habe ich unlängst richtiggestellt und füge es hier an:
'Ein Etwas bestimmen heißt: ihm eine Eigenschaft zusprechen.
Wir reden hier erst noch vom Gang des Vorstellens: Begriffe gibt es noch nicht, und also keine Eigenschaften. Das Bestimmen geschieht immer dadurch, dass die Vorstellung sich eine neues Bedeutungsfeld eröffnet, in das sie das Etwas hinein setzt. Das Feld wird 'eröff-net', indem seine Außenpfosten benannt werden: als ein Gegensatz.
Groß-klein, oben-unten, vorn-hinten, rechts-links, hell-dunkel, laut-leise, viel-wenig, gut-schlecht, hoch-niedrig (mehr oder weniger); aber auch qualitativ-relativ, ganz-mannigfaltig, sinnlich-intelligibel (entweder-oder)...'
23. 7. 21
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