Seit Mitte des 17. Jahrhunderts – seit dem Ende des 30jährigen Krieges – waren sich, außer den Theologen jeder Konfession, alle einig, dass Vernunft es war, die von nun an zu herrschen hätte. In den philosophischen und juristischen Traktaten der folgenden andert-halb Jahrhunderte dürfte kein Begriff öfter vorgekommen sein. Merkwürdig nur: Zum Thema wurde Vernunft nie. Was sie sei, woher sie kommt, wodurch wir von ihr wissen, wurde nicht gefragt. Sie offenbarte sich, indem man sich ihrer befleißigte.
Denn wie sie zu verfahren hätte, lag inzwischen auf der Hand, nämlich nach dem Vorbild der Mathematik. Diesen galileischen Grundgedanken hatte Descartes in seinem Discours de la méthode kanonisiert: Clare et distincte definierte Begriffe werden verknüpft nach den seit Aristoteles nicht wesentlich erweiterten Regeln der formalen Logik und ergeben Schlüsse von der Evidenz der Demonstrationen der Geometer. Vernünftigkeit war zuerst einmal eine Methode.
Descartes hatte ursprünglich kritisch argumentiert, gegen die Mannigfaltigkeit und Un-entscheidbarkeit der rivalisierenden Meinungen: Geprüft werden sollten nicht erst die fertigen Resultate, sondern bereits die Wege des Denkens. Aber die dogmatische Falle lag schon im kritischen Grundprinzip verborgen. Indem das mathematische Modell zum Einheitsprinzip von denkender Seele und ausgedehnter Materie bestimmt wird, werden Natur und Geist in Parallele gesetzt: La Raison besteht in der Identifikation von realer Ursache – raison – mit dem logischen Grund: raison. Natur und Vernunft erklärten ein-ander, die Begriffe vermittelten, das Verfahren füllte sich mit Stoff. Daraus entstanden die großen metaphysischen Systeme mit den beiden Polen Leibniz und Spinoza und man-chem Malebranche dazwischen. Statt der Methode trat der Gehalt in den Vordergrund. Aus Vernunft wurde Rationalismus, aus kritischem Verfahren wurde ein Fetischismus der Begriffe.
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Ihm galt Kants Versuch einer Vernunftkritik. Anstoß gab der Streit um den Kausalitäts-begriff, in dem empirische Ursachen und logische Gründe zusammenfallen. Begriffe, die nicht auf Erfahrung beruhen, sind leer, doch ohne Begriffe ist die Anschauung blind. Erfahrung beruht auf den Anschauungsformen Raum und Zeit und den zwölf kategoria-len Begriffsfamilien als Bedingung ihrer Möglichkeit. Wie, woher, wodurch wir zu ihnen gelangt sind, ließ er offen; um, wie spitze Zungen meinen, Platz für den Glauben zu schaffen (mochten sie doch vom Himmel gefallen sein). Das Apriori wurde zur Zuflucht aller gewendeten Dogmatiker, die hier ein Asyl für das vertriebene Ding-an-sich gefunden hatten. Das war eine Halbheit, die Vernunftkritik drohte an den Orthodoxen Kantianern zu scheitern, dabei konnte es nicht bleiben.
Die Halbheit zu ergänzen war Zweck der Wissenschaftslehre: die Rückführung der Be-griffe hinter die Grenzlinie des Apriori zurück auf die Tätigkeit des intellegierenden Sub-jekts, und das hieß: die Rückführung der festgestellten Begriffe auf die ihnen zu Grunde liegenden dynamischen Vorstellungen. Gegenstand der Wissenschaftslehre ist das Vor-stellen selbst und nicht erst seine mannigfaltigen Produkte. Das Grundmodell: Die leben-dige Intelligenz steht vor einem unendlichen Reich des Bestimmbaren – und gehört selber dazu, denn indem sie ihr jeweils Anderes bestimmt, bestimmt sie sich selber mit. Dabei kommt sie freilich nie zu einem Ende, weder bei der Bestimmung der Welt noch bei der Bestimmung ihrer selbst. Denn so weit der Weg auch sei, den sie beim Bestimmen schon zurückgelegt hat, so bleibt das Feld vor ihr doch so weit wie je: unendlich.
Vernünftig ist nun eine Intelligenz, die diesen Gang nimmt; nicht seine einzelnen Stufen, sondern das Vorgehen selber: ein stetiges Fortschreiten vom relativ Unbestimmten zum Bestimmteren. Es ist als solches ein unentwegtes Urteilen, doch nicht die Urteile machen die Vernünftigkeit aus, sondern der Urteilende: Wenn ich einen vernünftigen Tutor habe, dem ich vertraue, und übernehme seine Urteile, dann mögen die Urteile vernünftig sein, aber ich bin es nicht – weil sie nicht meine sind. Vernünftigkeit ist hier wieder ein Verfah-ren, aber es ist nicht formal vorbestimmt einerseits als 'Methode' und nicht andererseits material vorgegeben durch monadische 'Begriffe', sondern entwickelt selber seine Vor-stellungen aus/einander. Es ist selber formal und material in Einem.
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Wenn aber Vernunft in einem tätigen Verständnis von ihrem Ursprung an vom Sub-jekt selbstgemacht ist – wie kann es sein, dass auf ihrem Boden, und darauf kam es an, Verständigung möglich ist? In der Wirklichkeit sind die Subjekte keine unendlich be-stimmbaren Iche, sondern sehr unterschiedliche, sehr endliche Individuen. Macht je-des seine Vernunft selber? Irgendwie muss sie ihrem je individuellen Tätigwerden doch schon vorausgesetzt sein, wie anders könnte sie sonst zum allgemeinen Medium taugen?
Das ist der Widerspruch der Wissenschaftslehre. Er manifestiert sich darin, dass Fichte von Anbeginn schwankt zwischen einem kritisch pragmatischen und einem dogmatisch substanziellen Vernunftbegriff.
Dabei hält er den Schlüssel schon in der Hand. "Dieser Begriff der Selbstheit der Person ist nicht möglich ohne Begriff von einer Vernunft außer uns; dieser Begriff wird also auch konstruiert durch Herausgreifen aus einer höheren, weiteren Sphäre. Die erste Vor-stellung, die ich haben kann, ist die Aufforderung meiner als Individuum zu einem freien Wollen."*
Schlechthin-tätig ist das Ich 'an sich', dazu bedarf es keiner Aufforderung. Zum Bestim-men muss es aufgefordert werden – vom Unbestimmten zum Bestimmten fortzuschrei-ten. Bestimmen heißt einer Sache einen Zweck zurechnen. "Der Zweck wird uns in der Aufforderung gegeben, also die individuelle Vernunft lässt sich aus sich selbst nicht er-klären. ... Doch wird uns der Zweck nicht als Bestimmtes, sondern überhaupt der Form nach gegeben, etwas, woraus wir wählen können. ... Kein Individuum kann sich aus sich selbst erklären. Wenn man also auf ein erstes Individuum kommt, worauf man kommen muss, so muss man auch ein noch höheres unbegreifliches Wesen annehmen."**
Der Zweckbegriff ist die Grundform des Begriffs: Begreifen heißt die Sache einem Zweck zuordnen. Die Tätigkeiten der Subjekte durch Begriffe regulieren heißt Zwecke miteinander vereinbaren. So geschah es schon, als das Ich in die Welt trat, wo es eine 'Reihe vernünftiger Wesen' bereits vorfand; sie ist das unbegreifliche höhere Wesen. Die Aufforderung erging in dem Moment, als das Ich in die Reihe eintrat und sich damit zum Individuum bestimmte. Seine Teilhabe an der Vernünftigkeit ist von Anfang an vermittelt durch die der Andern. Sie ist selber Vermittlung. 'Vernunft' nennen wir einen Zustand, in dem das Handeln Aller vernünftig ist. Vernunft als Zustand ist keine Sache, sondern ein tätiges Verhältnis – die Verkehrsweise einer 'Reihe vernünftiger Wesen'; ist nicht be-stimmt, sondern allezeit sich-selbst-bestimmend.
Aufgekommen ist sie gegen Mitte des 17. Jahrhunderts.
*) Nova Methodo, S. 177
**) ebd., S. 178
26. 1. 16
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