Sonntag, 1. Januar 2023

Ist Philosophie eine Sache der Universitäten?

 Rembrandt, Der lachende Philosoph (Demokrit)                                       aus Philosophierungen
aus einem Kommentar:

... Die nächstliegende Bemerkung: Das Problem ist, dass die Universitäten zu Ausbil-dungsstätten für Berufskarrieren geworden sind. Bologna war ein Höhe-, aber vermutlich nicht einmal der Schlusspunkt.

Allerdings waren die Universitäten als Ausbildungsstätten für Berufskarrieren entstanden. Ärzte, Juristen und Theologen brauchten einen Universitätsabschluss. In der Neuzeit kamen die leitenden Staatsbeamten hinzu; wer den Fürsten ihre Reiche verwalten sollte, brauchte eine umfassende Allgemeinbildung - denn gegen die Juristen und Theologen würde er be-stehen müssen.

Die besondere Ausprägung der deutschen Universitäten, deren universalistisches Ideal im 19. Jahrhundert zum Vorbild der westlichen Welt wurde, verdanken sie dem spezifisch deutschen Bildungs-Begriff. 'Tatsächlich ist die Entgegensetzung von Bildung und dem Lernen nützlicher Realien für sozialölkonomische Zwecke eine deutsche Erfindung. Sie wurde zur identitätsstiftenden nationalen Leitidee, denn eine solche brauchten wir.

Die andern großen Nationen mußten ihre Identität nicht aus der Reflexion konstruieren, sie konnten sie anschauen: in einem lebendigen verbindlichen Menschenbild, in dessen charakteristischen Zügen die Spuren der gemeinsamen Geschichte lesbar sind. Der eng-lische gentleman personifiziert die historische Vereinigung von Adel und Großbürgertum zur typisch britischen Oligarchie, im französischen citoyen verbinden sich der plebejische Stolz des Sansculotten mit römischer Staatsvergötzung, der amerikanische pioneer verei-nigt den beengten Blick auf den nächstliegenden Vorteil mit einer kontinentalen Weite des Horizonts. Die tausendfach zersplitterten Deutschen haben als Nationaltype lediglich den Michel hervorgebracht, und schämten sich seiner: Er mußte sich erst einmal bilden.

Die erste Realisierung dieses Ideals wurde die Humboldt'sche Universität in Berlin, ihr erster gewählter Rektor wurde der idealistische Philosoph Fichte - der seinerseits das erst hundert Jahre später in Angriff genommene Programm der Landerziehungsheime ent-worfen hat. Wandervogel und Deutsche Reformpädagogik wurden zu unmittelbaren Er-ben der deutschen Bildungsidee.

Das war eine durch und durch bürgerliche Idee. Durch und durch bürgerlich waren auch die Naturwissenschaften, die man damals so zu nennen begann, und die universalistische Bildungsidee öffnete ihnen die Hörsäle der Universitäten. Deutschland war im 19. Jahr-hundert Heimstatt der Wissenschaft. Wollte wer 'in der Wissenschaft mitreden', wurde er am besten ein deutscher Professor; aber ein deutscher Doktor war das mindeste; natürlich war die Universität ein Sprungbrett für die Berufslaufbahn.



Auch die Philosophie kam seit den siebziger Jahren des 19. Jahunderts wieder zu Ehren, als Sahnehäubchen auf den Realwissenschaften, das niemand wirklich brauchte, aber über Alles ein weihevolles Licht goss. Den Naturwisschenschaften zeigte sie sich erkenntlich, indem sie sich an deren strengen Wissenschaftsbegriff anschmiegte: Seither ist deutsche Universitätsphilosophie philologisch, pedantisch und für Außenstehende unverständlich. Und das durfte sie ruhig werden, denn es entstand eine beispiellose Menge neuer Lehr-stühle; und ein Studienrat an deutschen Gymnasien war regelmäßig Dr. phil. Ein Studium der Philosophie - gern auch neben einem Brotstudium - diente der Vorbereitung auf einen Erwerbsberuf. Immer weniger der Sache, immer mehr der Form nach.


Das konnte dauerhaft nicht ohne Folgen für das Was der akademischen Philosophie bleiben. Tonnenideologie und Kästchendenken wucherten wie in allen andern Erwerbs-zweigen, und nach einem Überblick suchten nur dreieinhalb Außenseiter. Das Ergebnis: ein Denkstil
, der wie zu Wolff-Baumgartens Zeiten sein Genügen in immer neuen, immer spitzfindigeren Definitionen findet, spielt sich gegen die 'kontinentale', 'historische' und philologische Flohknackerei als denkerischer Stoßtrupp auf und nennt sich wie zum Hoh-ne auch noch "systematisch".

Ausufernde Form und dünner Inhalt sind nicht an sich das Problem heutiger philosophi-scher Dissertationen. Es ist der Gehalt, der nichts als Wiederkäuen gestattet - und sei es 'ganz von vorne an'. Der Gehalt einer Philosophie, die sich zu Recht so nennt, bleibt aber immer:

Von der Wirklichkeit weißt du gar nichts
, sondern nur von dem, was in deinem Bewusst-sein vorkommt, und das sind Vorstellungen. Die mögen ja richtig sein, das wollen wir gerne unterstellen. Aber wie das möglich ist – das würden wir doch schon herausfinden wollen. Die-ses Herausfinden heißt Philosophieren. Das ist ein eng gefasster Begriff von Philosophie, er ist rein kritisch; aber er ist hart und haltbar. Unmittelbar taugt er zu nichts, da haben die Nörgler Recht. Doch mittelbar taugt er zu allem und ohne ihn taugt nichts: Er ist der Prüfstein, an dem sich Alles bewähren muss. Aber um das Vorstellen selber geht es. Die brauchbaren Begriffe sind bloß Derivate, die seien euch geschenkt.

Kritische Philosophie eignet sich nicht zum Wiederkäuen. Und wer nur einen Titel will, den wird das Wiederkäuen nicht verdrießen. Philosophie war Jahrhunderte lang keine Sache der Universität und braucht es auch nicht zu bleiben.



Nachtrag


Der Richtigkeit halber sei aber angefügt, dass Philosophie als selbständiges wissenschaft-liches Fach im heutigen Sinn allerdings an der Universität, mit der Universität neu-ent-standen ist: im hohen Mittelalter, und aus diesem Grund heißt diese ihre Entwicklungse-tappe bis heute Scholastik. Sie war viel weniger steril, als man es redensartlich glauben macht; der Universalienstreit war ein Wendepunkt der Geistesgeschichte, von einer 'Ersten Aufklärung' ist gar die Rede; und dass er andernorts nicht stattgefunden hat, merkt man den außereuropäischen Kulturen bis heute an. Vor allem aber genügte sie sich damals nicht selbst, denn die Universität war kein Elfenbeinturm: Sie stand in unmittelba-rer Konkurrenz zur Theologie und war beinahe politisch - und in Gestalt Wilhelm von Ockhams mehr als nur beinahe.

Brechen konnte sie freilich nicht mit dem Dogma. Dazu bedurfte es des Einbruchs der Mathematik in die Philosophie. Galileo war kein Universitätsgelehrter, Descartes, Spinoza, Newton und Leibniz ebensowenig. Zur Universitätsangelegenheit wurde sie erst wieder durch Christian Wolff, der die genialen Essays von Leibniz systematisierte und bis zu Kants Kritiken das darniederliegende deutsche Geistesleben beherrschte. Nach eigenem Verständ-nis Speerspitze der Aufklärung, erschien sie aber in ihren haarspalterischen Dis-tinktionen und Definitionen schon der folgenden Generation als eine 'Zweite Scholastik', und mit der Kritischen Philosophie brach das Denken wieder aus dem universitären El-fenbeinturm aus.

Aber auch das nur kurz. An kleinlicher Scholastik und zugleich an systematischem Totali-tarismus stellte das Hegel'sche System alles Vorangegangene in den Schatten. Als es zu-sammenbrach, blieb für die Philosophie nur verbrannte Erde. Allerdings war die Universi-tät unterdessen zu ungeahnten Würden gekommen - siehe oben.

Mit andern Worten, das Verhältnis der Philosophie zur Universität war immer ein zykli-sches, um nicht zu sagen: ein spasmisches. Universitätsphilosophie ist dem Wesen der Dinge nach schulmäßig - in Form und Gehalt. Neue Vitalität hat sie stets nur erfahren durch Abstandnahme vom Hochschulbetrieb und nicht durch den Versuch, ihn auszu-bessern.

"Damit sind einige Bedingungen genannt, unter denen der philosophische Genius in unserer Zeit trotz der schädlichen Gegenwirkungen wenigstens entstehen kann: freie Männlichkeit des Charakters, frühzeitige Menschenkenntnis, keine gelehrte Erziehung, keine patriotische Einklem-mung, kein Zwang zum Brot-Erwerben, keine Beziehung zum Staate – kurz, Freiheit und immer wieder Freiheit: dasselbe wunderbare und gefährliche Element, in welchem die griechischen Phi-losop
hen aufwachsen durften."
Nietzsche Unzeitgemäße Betrachtungen; Kapitel 32/8  
26. 10. 2017




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