Samstag, 31. Dezember 2022

Lenin über Dialektik.

                                                                aus Marxiana

In der Diskussion vom 30. Dezember [1921] sagte [Gen. Bucharin]:

"Genossen, auf viele von Ihnen machen die hier vor sich gehenden Auseinandersetzun-gen etwa folgenden Eindruck: Da kommen zwei Menschen und fragen einander, was das Tringkglas ist, das auf dem Rednerpult steht. Der eine sagt: 'Das ist ein Glaszylinder, und jeden soll der Bannfluch trefen, der sagt, dass dem nicht so ist!' Der zweite sagt: 'Das Glas, das ist ein Trinkgefäß, und jeden soll der Bannfluch trefen, der sagt, dass dem nicht so ist.' "


Durch dieses Beispiel wollte mir Bucharin, wie der Leser sieht, in populärer Weise erklä-ren, wie schädlich Einseitigkeit ist. Ich nehme diese Erläuterung dankbar entgegen, und um meine Dankbarkeit durch die Tat zu beweisen, antworte ich mit der populären Erklä-rung dessen, was Eklektizismus zum Unterschied von Dialektik ist.

Ein Glas ist unstreitig sowohl ein Glaszylinder als auch ein Trinkgefäß. Das Glas besitzt aber nicht nur diese zwei Merkmale oder Eigenschaften, Seiten, Wechselbeziehungen und "Vermittelungen" mit der gesamten übrigen Welt. Ein Glas ist ein schwerer Gegenstand, der ein Wurfinstrument sein kann. Ein Glas kann als Briefbeschwerer, als Behälter für einen gefangenen Schmetterling dienen, ein Glas kann von Wert sein als Gegenstand von künstlerischer Gravierung und Zeichnung, ganz unabhängig davon, ob es sich zum Trin-ken eignet, ob es aus Glas gefertigt, ob seine Form zylindrisch oder nicht ganz zylindrisch ist, und so weiter und dergleichen mehr.

Weiter. Brauche ich jetzt ein Glas als Trinkgefäß, so ist es für mich absolut unwichtig zu wissen, ob seine Form ganz zylindrisch und ob es aus Glas gefertigt ist, dagegen ist es wichtig, dass der Boden keinen Sprung  aufweist, dass man sich nicht die Lippen verletzt, wenn man dieses Glas benutzt, usw. Brauche ich dagegen ein Glas nicht zum Trinken, sondern zu einer Verwendung, für die jeder Glaszylinder taugt, so genügt / mir auch ein Glas mit einem Sprung im Boden oder sogar ganz ohne Boden usw.

Die formale Logik, auf die man sich in den Schulen beschränkt (und in den unteren Schulklassen - mit gewissen Korrekturen - beschränken muss), nimmt die formalen Defi-nitionen, wobei sie sich von dem leiten lässt, was am üblichsten ist oder was am häufig-sten in die Augen springt, und beschränkt sich darauf. Nimmt man dabei zwei oder meh-rere verschiedenen Definition und vereinigt diese ganz zufällig (sowohl Glaszylinder wie auch Trinkgefäß), so erhalten wir eine eklektische Definition, die auf verschiedene Seiten des Gegenstandes hinweist und sonst nichts.

Die dialektische Logik verlangt, dass wir weitergehen. Um einen Gegenstand wirklich zu kennen, muss man alle seine Seiten, alle Zusammenhänge und "Vermittelungen" erfassen und erforschen. Wir werden das niemals vollständig erreichen, die Forderung der Allsei-tigkeit wird uns aber vor Fehlern und vor Erstarrung bewahren. Das zum ersten. Zwei-tens verlangt die dialektische Logik, dass man den Gegenstand in seiner Entwicklung, in seiner "Selbstbewegung" (wie Hegel manchmal sagt), in seiner Veränderung betrachten. In bezug auf das Glas ist das nicht ohne weiteres klar, aber auch ein Glas bleibt nicht unver-ändert, besonders aber ändert sich die Bestimmung des Glases, seine Verwendung, sein Zusammenhang mit der Umwelt. Drittens muss die vollständigen "Definition" eines Ge-genstandes die ganze menschliche Praxis sowohl als Kriterium der Wahrheit wie auch als praktische Determinante des Zusammenhangs eines Gegenstandes mit dem, was der Mensch braucht, eingehen. Viertens verlangt die dialektische Logik, dass es "eine abstrak-te Wahrheit nicht gibt, dass die Wahrheit immer konkret ist", wie der versorbene Plecha-now - mit Hegel - zu sagen pflegte.
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Lenin, Werke, Bd. 32, Berlin (O) 1970, S. 84f.

Nota. - Wer Lenins peinlich unbelesenen Materialismus oder Empiriokritzismus kennt und auch seine schülerhaft dogmatischen Hegel-Exzerpte aus 1915, wird den Erkenntnis-fortschritt aus dem obigen Beitrag zur Gewerkschaftsdebatte gar nicht hoch genug ein-schätzen können. Der Eklektizismus, den auch er sich hier zuschulden kommen lässt, ist nicht wie bei Bucharin primär, sondern sekundär, nämlich begründet in seiner "materiali-stischen" objektivistischen Prämisse. Die "Forderung der Allseitigkeit" lässt sich nur tech-nisch-praktisch nicht erfüllen, 'an sich' stünde es wohl fest, wieviele und welche 'Merkma-le' und 'Eigenschaften' ein Ding aufweist. Und während es bei Hegel die Begriffe sind, die sich "selbstbewegen", sind es bei Lenin die Dinge - und schleppen die Begriffe hinter sich her. Denn mit ihrer Umwelt hängen sie selbst zusammen (physikalisch, nehme ich an), die 'ganze menschliche Praxis' kommt erst "drittens" hinzu - selber sub specie 'Bedürfnis' ein Naturzusammenhang...

Doch seine Zusammenfassung ist eklektischer, als seine Argumentation selbst es war: Da stand als Kriterium nur die Frage, wozu ich das Ding brauchen will. Merkmale und Eigen-schaften 'erscheinen' als Widerhall menschlicher Absichten. Und das nicht erst, sobald sie, wie das Wasserglas, selber von Menschen produziert wurden.
JE 24. 11. 18


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