Freitag, 28. Februar 2025

Vernunft ist ein gesellschaftliches Verhältnis.

                                                               zu Philosophierungen 

So ist sie an sich. Aber so kann sie sich auf die Dauer nicht halten. Es müssen immer wel-che nachwachsen, die sie sich zur Aufgabe machen. Für sich wird sie als Aufforderung. Alle gleich sind nur, sofern die Aufforderung gehört wird.
13. 1. 18

 
Das ist wörtlich gemeint: Es gibt sie nur, weil und sofern sie das gesellschaftliche Leben re-gelt. Das tun auch andere Kräfte neben ihr, aber darauf kommt es hier nicht an; sondern darauf, dass sie Herrschaft beansprucht, wo immer sie kann. Nur darum kann ein Individu-um vernünftig sein.
 
Und übrigens ist von einem gesellschaft lichen Verhältnis die Rede; nicht von einem ge-meinschaft lichen Erleben.
JE, 15. 2. 22
 
 
 
Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE 

Prädizieren (Tätigkeit und Begriff).

                                 zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Wie ich etwas verwende, ist das, als was ich es verwende. Was das eine Mal als eine adverbi-ale Bestimmung erscheint, erscheint das andre Mal als Substantivum. Es gibt keine Tätig-keit, an der sich diese Doppelheit nicht unterscheiden lässt. Und keinen Begriff.

Selbst wenn ich bloß denke, gibt es ein Wie und ein Was. Fraglich wäre nur, ob, nämlich wie sie sich unterscheiden lassen.
14. 2. 22



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Donnerstag, 27. Februar 2025

A und O.

gutefrage                                                                                       zu Philosophierungen

Eine Intelligenz, die so handelt, wie es in der Wissenschaftslehre dargestellt ist, soll vernünf-tig heißen. 

Zur westlichen Großmacht stieg die Vernunft im siebzehnten Jahrhundert, genau: nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges auf. Sie sollte an die Stelle der Glaubensbekenntnisse tre-ten, die Europa in Zwietracht und Verheerung geführt hatten. 

Zu uneingeschränkter Herrschaft wollte die französische Revolution sie bringen: Im No-vember 1793 wurde in Notre Dame de Paris statt der christliche Kulte die Fête de la Raison ge-feiert. Doch dem Wohlfahrtsausschuss grauste vor ihrer atheistischen Tendenz und setz-te ihr im Juni 1794 die Fête le l'Être Suprème entgegen - die Vernunft nicht länger als han-delndes Subjekt, sondern als Attribut der Gottheit. 

Da hatte in Deutschland die Vernunftkritik bereits begonnen: die Reflexion der Vernunft auf sich selbst, die Frage nach ihrer Reichweite und ihren Bedingungen. Kant war beim Apriori als einem Vorauszusetzenden steckengeblieben. Die Wissenschaftslehre führt auch dieses auf den Voraussetzenden selbst zurück: das tätige Ich. Doch leider ist die Wissen-schaftslehre ihrerseits im Atheismusstreit steckengeblieben. Aber der hat sich erübrigt und nichts hindert uns, sie wieder aufzunehmen.

27. 11. 17


Es gäbe keine Wahrheit, sondern nur Wahrheiten, lautet eine zeitgenössische Plattitüde. 

Die Wissenschaftslehre sagt, eine andere Wahrheit als die Verunft selber könne es - 'für ein endliches Bewusstsein' - nicht geben. 

Der Schlaumeier sagt, es gebe keine Vernunft, sondern nur Vernünfte. Anything goes. Wenn dem so wäre, könnte keiner mit keinem aus Gründen argumentieren, denn welche Gründe zugrunde zu legen sind, obliegt der Willkür und dem Zufall. Sie könnten nicht diskutieren, sondern nur säuseln oder schreien oder singen. 

Der bloße Umstand, dass einer einen andern mit Argumenten zu überzeugen versucht, be-ruht, ob er es zugibt oder nicht, auf der Voraussetzung, dass es Gründe - oder doch wenig-stens einen - gibt, die der eine dem andern nicht bestreiten kann.

Wenn es so ist, müssten sie - oder er, der allen anderen zu Grunde liegt - sich in allem, was wir zu wissen meinen, auffinden lassen.

Die Wissenschaftslehre behauptet, diesen einen Grund freigelegt zu haben. Jeder Satz, der sich aussprechen lässt, folgt dem Schema ich prädiziere, dass... Ob mir oder meinem Ge-genüber das im Moment des Sprechens klar ist, spielt keine Rolle. Jeder Dritte, der uns zu-hört, wird es aber so wahrnehmen, und ich werde es ihm hernach nicht bestreiten können. Alles, was wir wissen, beruht darauf, dass Einer sich das Vermögen des Urteilens zuge-schrieben hat: Ein Ich hat ipso facto sich gesetzt. Davon ist jeder, der mit mir streiten mag, ausgegangen.

Wer immer meint, es gäbe keine Wahrheit, sondern nur Wahrheiten, und es gäbe keine Ver-nunft, sondern nur Vernünfte, müsste mit mir bis an diesen Punkt zurückkehren; dann se-hen wir weiter.
5. 3. 19
 
 

Mittwoch, 26. Februar 2025

Reflexion heißt Absicht.

Spiegelung in Baby-Auge                                                     aus Philosophierungen

Wir nehmen keine Erscheinungen wahr. Wir nehmen keine Bedeutungen wahr. Wir neh-men Dieses oder Das wahr. Was ist Dies oder Das? Eine Erscheinung, die etwas bedeutet. Könnte sie mir nichts bedeuten, würde sie mir nicht erscheinen.*

Die Unterscheidung geschieht nicht in der Anschauung, sondern in der Reflexion. Wahr-nehmung ist das Produkt beider. Die Reflexion rechnet auf eine Bedeutung. Wenn sie keine erkennen kann, fragt sie; sogar, wenn sie döst. Reflexion ist Absicht. 

Bis sie in Diesem oder Jenem ein 'Ding' erkennt, hat sie noch tüchtig zu tun.
20. 4. 09

*) Der von Schiller so genannte ästhetische Zustand entsteht bei einem absichtsvollen Ab-sehen von aller Bedeutung. Er wird möglich durch Bildung und entstand ursprünglich wohl aus dem Befremden. Er ist ein gewünschtes und gesuchtes Befremden.

Nota. - Absehen auf das eine heißt absehen von allem andern. Reflektieren und Abstrahie-ren sind dasselbe - jeweils von hinten und vorn.
25. 2. 15


Nota II. -
Dies zum gestrigen Eintrag: Reflektieren heißt passend machen. -  Ich habe eine Absicht und ich habe einen Gegenstand. Was zuerst da war, ist egal. Einiges an dem Gegen-stand kommt meiner Absicht entgegen, einiges widersteht ihr. Ich achte auf das Günstige, von dem Ungünstigen sehe ich ab. Zuerst in meiner Vorstellung; dann nehme ich meine Hände und mach das Ding passend. 


Es ist nichts anderes als was Nietzsche sagt; aber es klingt nicht so böse: Logik stammt nicht aus dem Denken selbst, sondern aus der Reflexion auf das Denken. Und ihr einziger Zweck ist das Reflektieren.
22. 11. 18


Nota III. - Reflektieren heißt nach Bedeutung fragen, nach Bedeutung suchen und Bedeu-tung zuschreiben. Es ist eine Tätigkeit der Einbildungskraft. Schon bloße Anschauung er-fortert Einbildungskraft: Ihr Gegenstand ist ein Gefühl, dieses ist schlechthin gegeben und wird als solches bloß erlitten; doch was es ist, muss die Einbildungskraft an ihm finden. Es muss ihm Qualitäten anerfinden. Das kann sie kaum tun, ohne es mit anderem zuvor Ge-fühlten in ein Verhältnis zu setzen, und so wird das, als was es eingebildet wurde, festgehal-ten und eingegrenzt, 'bestimmt'. Es wird zum Begriff. 

Der lässt sich mitteilen und macht eine denkende Gesellschaft möglich, aber das steht schon auf einem andern Blatt. Es gehört schon zu unserer Geschichte und muss aus den uns überlieferten Denkmälern rekonstruiert werden und nicht, wie unsere vor-vernünftige Vor-Geschichte, aus Denkexperimenten spekulativ erraten.
JE,
22. 5. 19


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Dienstag, 25. Februar 2025

Es führt kein Weg aus der Vernunft hinaus.

                                               aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Nur freie Wechselwirkung durch Begriffe und nach Begriffen, nur Geben und Empfangen von Erkenntnissen ist der eigentümliche Charakter der Menschheit, durch welchen allein jede Person sich als Menschen unwidersprechlich erhärtet. 

Ist ein Mensch, so ist notwendig auch eine Welt, und bestimmt solch eine Welt, wie die uns-rige es ist, die vernunftlose Objekte und vernünftige Wesen in sich enthält. (Es ist hier nicht der Ort, noch weiter zu gehen und die Notwendigkeit aller bestimmten Objekte in der Na-tur und ihre notwendige Klassifikation zu erhärten, die sich aber ebensowohl erhärten lässt, als die Notwendigkeit einer Welt überhaupt.)*

Die Frage über den Grund der Realität der Objekte ist sonach beantwortet. Die Realität der Welt - es versteht sich: für uns, d. h. für alle endliche Vernunft - ist Bedingung des Selbstbe-wusstseins, denn wir können uns selbst nicht setzen, ohne etwas außer uns zu setzen, dem wir die gleiche Realität zuschreiben müssen, die wir uns selbst beilegen. 

Nach einer Realität zu fragen, die bleiben soll, nachdem von aller Vernunft abstrahiert wor-den, ist widersprechend, denn der Fragende selbst hat doch wohl Vernunft, getrieben durch die eigene
Vernünftigkeit, und will eine vernünftige Antwort; er hat mithin von der Vernunft nicht abstrahieret. Wir können aus dem Umkreis der Vernunft nicht hinausgehen. Gegen die Sache selbst ist gesorgt, die Philosophie will nur das erreichen, dass wir mit [...?] darum wissen und nicht wähnen, herausgegangen zu sein, wenn wir doch, wie sich versteht, darin befangen sind.

*) Wer dies nicht einsehen kann, der habe nur Geduld und folgere aus seinem Nichteinse-hen indes nichts weiter, als was wirklich darin liegt, nämlich dass er es nicht einsehen kann.

_______________________________________________________________________ J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, SW Bd. III, S. 40
 

Nota. I - Vernunft ist immanent, es führt kein Weg hinaus - jedenfalls nicht durch vernünf-tiges Fragen. Wer fragt, ob es Wahrheit gibt, setzt sie voraus. Wahrheit ist kein Sachverhalt, sondern ein Begriff (ein Begiff, der sich durch keine Bestimmung erschöpfen lässt, vulgo eine Idee). Es ist der Begriff von einer Geltung ohne Bedingungen. Wer fragt, ob es diesen Begriff gibt, der hat ihn sich bereits entworfen. Also 'gibt es' ihn. *

Doch das bedeutet selber noch gar nichts. Die Frage ist immer nur, wann und wo er gilt. Die wäre konkret zu beantworten. Der Satz, 'es gibt Wahrheiten, aber keine Wahrheit', ist ein Wortspiel. Wenn ein Satz gilt, und sei es unter tausendundeiner Bedingung, dann 'gibt es' Geltung; aber das heißt nichts weiter als: Außer seienden Dingen gibt es Geist. Was das sei, darüber darf man verschie
dner Meinung sein. Aber dass es so ist, kann nur ein Geistlo-ser bestreiten; doch der könnte es nicht bestreiten.
 

3. 2. 19

*) Er müsste sonst sagen: Was er sich unter Wahrheit vorstellt, könne er sich nicht vorstel-len.

Nota II. - Kein Weg über die Vernunft hinaus könnte es ebensogut heißen.
JE, 15. 2. 22
 
 

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Montag, 24. Februar 2025

Der große Bogen der Vernunftkritik.

translate                     aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkrit

Fichte hat im Ersten Hauptstück seiner Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre aus dem Jahre 1796, das ich auf diesem Blog wiedergegeben habe, besagte 'Prinzipien' zusammengefasst. Nicht mi-nutiös entwickelt wie in der Nova methodo, sondern eher lehrhaft vorgetragen, aber so musste es sein. Es sollte der Leser (wie zuvor seine Hörer) bis an den Punkt geführt werden, wo die transzendentale - kritische und spe-kulative - Rekonstruktion aus notwendigen Vostellungen innehält und eine positive wissenschaftliche Deduktion aus Begriffen möglich wird. 

Das gibt Anlass zu einer allgemeinen Betrachtung:

 
Vernunft ist eine Tätigkeit und keine Sache. Sie erfordert einen Stoff, ein Verfahren und eine Energie. Ihr Stoff sind die Begriffe, ihr Verfahren sind die logischen Schlussregeln. Was ihre Energie ist, bleibt einstweilen offen.

Die Untersuchung der Vernunft in specie beginnt mit Kant. Sein erster Gegenstand sind die Erfahrungsbegriffe. Es gibt darüber hinaus Begriffe ohne sinnliches Substrat. Diese sind aus jenen abstrahiert; mit welchem Recht?

Zuerst ist da eine Flut sinnlicher Reize. Aus der greift wie mit Kellen die Vernunft etliche heraus und fasst sie zu Begriffen zusammen. Die Kellen identifiziert Kant als zwölf Kate-gorien und zwei Anschauungsformen. Weiter geht er nicht.

Es stellt sich erstens die Frage: Woher die Kellen? Und zweitens: Von allein schöpfen sie nicht; es muss sie einer zur Hand nehmen. Und woher die Schlussregeln stammen, lässt Kant völlig unerörtert.

 


Fichte begann, wo Kant stehenblieb: Die Begriffe wurden von Menschen geschaffen, in-dem sie Kellen betätigten. Wie sie zu betätigen sind, wussten sie, weil sie sie selber herge-stellt hatten. Die Spur verfolgt er und stößt ganz am Schluss auf das Ich, das sich selbst setzt, indem es sich ein/em Nichtich entgegensetzt.

Die Hypothese wäre zu verifizieren, indem der Schlusspunkt der Analyse zum Ausgangs-punkt einer synthetischen Rekonstruktion genommen wird: Man sieht dem aufgefundenen Ich Schritt für Schritt bei seiner Tätigkeit zu, und wenn wir einen Weg finden, auf dem so die von uns eingangs vorgefundene Vernunft lückenlos nachgebaut werden kann, so wird es der sein, den die Vernunft wirklich gegangen ist.

Man erkennt: Es ist die Geschichte ihrer Selbstschöpfung. Sie hat keine andere Vorausset-zung als das Selbstsetzen eines Ichs. Daraus folgt alles andere. Es folgte nicht aus Notwen-digkeit - unendliche viele Abwege waren möglich (und werden faktisch auch gegangen wor-den und spurlos wieder verwachsen sein) -, sondern aus Freiheit, aber dass es folgte, war der faktische und logische Ausgangspunkt der Analyse, zu dem die Synthesis zurückgeführt hat.

Wir finden in der Synthese, wie der Stoff entstanden und wie das Verfahren selbst gesucht und gefunden wurde, wir müssen rückschließen, dass die treibende Energie dieselbe war, aus der heraus das Ich sich überhaupt erst gesetzt hat. Weil sie keine andere Bestimmung auf-weist als diese, nennt Fichte sie das reine Wollen.

*

Kritisch verfährt die Wissenschaftslehre in ihrem von Kant eröffneten ersten, dem analy-tischen  Teil. In ihrem konstruktiv-synthetischen zweiten Teil verfährt sie spekulativ. Doch spekuliert sie nicht ins Blaue hinein, sondern auf ein festumrissenes Ziel hin: unser wirklich gegebenes System der Vernunft aus Begriffen und Schlussregeln, über dessen treibende Energie wir uns inzwischen auch klargeworden sind.

An diesem Punkt - dass ein System von Begriffen entstanden ist und dass sich das Denken Regeln geschaffen hat - ist die Vernunftkritik vollendet und hat die Wissenschaftslehre ihre Arbeit getan.

Was jetzt noch folgen kann, sind die positiven Bestimmungen der Wissenschaften in con-creto. Von den kritischen Grundsätzen, die die Wissenschaftslehre in ihrem analytischen sowohl wie in ihrem synthetischen Teil entwickelt hat, wird sie sich in ihrer Erkenntnis lei-ten lassen; aber ihr Gegenstand werden sie nun nicht mehr.



Der Begriff des Rechts ist nun gefasst, und es kann aus Begriffen fortargumentiert werden
.
6. 3. 19

 

Nota. - Die Leute im obigen Bild tanzen eine Sardana, einen katalanischen Volkstanz, bei dem sich die Kreise um einander drehen - in je entgegengesetztem Sinn.

Sonntag, 23. Februar 2025

Die treibende Tätigkeit des Ich geht in der Logik unter.

J. A.Morlán, Ringer                                                  zu Philosophierungen

Im engeren Sinn vernünftig wird, nämlich zu Begriffen kommt das Denken erst in den Maß, wie die Vorstellungen dureh das Kantsche Aprioi - die zwölf Kategorien und beide Anschauungsweisen  - hindurchgegangen ist. 

Ob oder ob nicht merkt man ihm selber nicht an, sondern erst seinen Leistungen: eben den Begriffen. Die Weisen, die Begriffe zu verknüpfen, stammt aber nicht aus der Form des Be-greifens selbst, sondern noch aus dem Vorstellen: nämlich dass Eines das Andere zur Gel-tung bringt, liegt schon im Vorstellen selber: Ich denke, dass... 

In den Begriffen aber - wo eines so gültig ist wie das andere - ist die setzende Tätigkeit des Ich längst untergegangen. Man nennt es Logik und siedelt es irgendwo neben der Philoso-phie an, aber nicht in ihr. Denn nun - im System der Begriffe - ist es rein formal; aber nicht mehr material: und nicht mehr real.

 

 

Samstag, 22. Februar 2025

Ist Vernunft die prästabilierte Harmonie der Vernunftwesen?

Botticelli, aus Maria mit den Engeln                  zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Das Handeln des freien Wesens außer mir, auf welches so geschlossen ist, verhält sich zu dem mir angemuteten Handeln, wie der angefangene Weg zu der Fortsetzung desselben. Es ist mir gegeben eine Reihe der Glieder, durch welche der Zweck bedingt ist; eine Reihe, die ich vollenden soll. Zuförderst ist sonach alles Handeln freier Wesen ein Hindurchgehen durch unendlich viele Mittelglieder, die bloß durch die Einbildungskraft gefasst werden, wie bei der Bewegung durch unendlich viele Punkte. Es fordert mich jemand auf heißt: Ich soll an die gegebene Reihe des Handelns etwas anschließen; er fängt an und geht bis auf einen gewissen Punkt, von da soll ich anfangen. 

Nun liegt hier ein unendliches Mannigfaltiges der Handlungsmöglichkeiten, welche bloß durch Einbildungskraft zusammengefasst werden. Denn das Handeln mehrerer Vernunft-wesen ist eine einzige durch Freiheit bedingte Kette. Die ganze Vernunft hat nur ein einzi-ges Handeln. Ein Individuum fängt an, ein anderes greift ein und so fort, und so wird der ganze Vernunftzweck durch unendlich Viele bearbeitet und ist das Resultat von der Einwir-kung Aller. Es ist dies keine Kette physischer Notwendigkeit, weil von Vernunftwesen die Rede ist. Die Kette geht immer in Sprüngen, das Folgende ist immer durchs Vorher/ge-hende bedingt, aber nicht bestimmt und wirklich gemacht. (vid. Sittenlehre) Die Freiheit besteht darin, dass aus allen möglichen nur ein Teil an die Kette angeschlossen werde.
_________________________________________________________
J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 198 2, S. 232f.



Nota I.  - "Die ganze Vernunft hat nur ein einziges Handeln." Ist das eine Vorhersage ex ante? Oder ist es eine Interpretation ex post? Wo befinden wir uns: Ganz am Anfang der "Kette", und er verspricht uns erst: So wird es sein? Oder schon mittendrin in der Kette: Wir haben schon ein ganzes Stück Weges geschafft und können schon annehmen: Hier geht es weiter zum Vernunftzweck...? – Das eine ist die dogmatische Verkündigung einer (schon jetzt) prästabilierten Harmonie, für die er eine Berechtigung nicht nur nicht nachgewiesen, sondern nicht einmal problematisch reklamiert hat. Das andre ist eine Art Pascal'sches pari: Ich will so handeln, als ob es Vernunft gäbe, dann werde ich wenigstens vernunftgemäß ge-handelt haben.



Oder mit den Worten des Manns ohne Eigenschaften: "Ich schwöre Ihnen", erwiderte Ulrich ernst, "dass weder ich noch irgendjemand weiß, was der, die, das Wahre ist; aber ich kann Ihnen versichern, dass es im Begriff steht, verwirklicht zu werden!" "Sie sind ein Zyni-ker!" erklärte Direktor Fischl und eilte davon.

16. 10. 15


Nota II. - Zwei Auffassungen der Vernunft sind möglich, beide hat Fichte jeweils vertreten, offenbar ohne sich ihrer Unvereinbarkeit bewusst zu werden: Erstens, Vernunft als Gehalt ist immer da gewesen, woher auch immer sie kam, und Sache des zur Vernunft berufenen Menschen ist es, ihre Gehalte nicht nur in der Vorstellung, sondern in seinen Handlungen in der Sinnenwelt auf zufinden und zu realisieren. Zweitens, Vernunft ist die Tätigkeit der Vernunftwesen selbst, und nur durch sie werden sie, machen sie sich zu solchen. Hier ist der Gehalt nicht seit Ewigkeit gegeben, sondern problematisch als Projekt auf gegeben: das un-endliche Übergehen vom unbestimmt-Bestimmbaren zur Bestimmung.

In der ersten Auffassung steht der Gehalt als Bestimmtheit schon immer fest. In der zwei-ten Auffassung ist der Gehalt durch Fortbestimmen immer erst noch zu er
finden. Auf dem Standpunkt der zweiten ist Vernunft nur möglich als gemeinsames Handeln einer Reihe ver-nünftiger Wesen. Auf dem Standpunkt der ersten müsste auch einer für sich allein vernünf-tig sein können.

Vom Standpunkt der Transzendentalphilosophie ist nur die eine Auffassung möglich. Die andere wäre dogmatische Metaphysik auf mystischem Untergrund
.
*)  gr. problêma heißt Aufgabe

 27. 3. 19

 

Nota III. -  "Auf dem Standpunkt der ersten müsste auch einer für sich allein vernünftig sein können" - wenn nämlich die Vernunft ihrem Gehalte nach vorherbestimmt ist, kann es nur ein Zufall sein, wenn der eine ihr auf seinem Wege nicht nur begegnet, sondern sie als eine solche auch erkennt; aber der andere nicht. 

Oder waltet eine unsichtbare Hand? Wessen Hand wäre das? Auf jeden Fall führte er sie mit Willkür. Es gäbe dann aber keinen Anlass, ihre Griffe für vernünftiger zu erachten, als die irgendeines andern. Denn wenn ich ihn für GOtt hielte, wäre die ganze Transzendentalphi-lophie für die Katz. So hat Jacobi die Sache verstanden, und ihm hat Fichte folgen wollen, aber denn doch nicht so ganz.
JE, 9. 6. 21

Das wirkliche Subjekt ist gespalten.

  Soehnée                                                                                                                 zu Philosophieru...