Samstag, 31. Mai 2025

Dass alles mit allem zusammenhängt...

                       zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik 

... ist wahr, aber platt. Doch wie dieses mit jenem zusammenhängt, indem alles mit allem zusammenhängt - das ist immer die Frage.

Beachte: Wie Dinge mit einander zusammenhängen, fragen die Mikro-, Makro- und Meso Physik. Alle andern Fächer haben es mit Vorstellungen  von Dingen zu tun.

Die hängen mit einander zusammen durch den Vorstellenden.*

*) Natürlich auch jene. Aber auch als Dinge-an-sich müssen wir sie uns vorstellen. Näher kommen wir ihnen nicht.

 

Freitag, 30. Mai 2025

Einstieg in die Transzendentalphilosophie.

                                 zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Die neue Reihe der Dinge, in die wir eingeführt werden sollen, ist die der Handlungen des menschlichen Geistes selbst, nicht mehr die der Objekte dieser Handlungen. Diese Hand-lungen sollen vorgestellt werden; keine Vorstellung ist mögllich ohne ein Bild. Es müssen demnach Bilder dieser Handlungen vorhanden sein. Alle Bilder aber werden durch die ab-solute Spontaneität der Einbildungskraft hervorgebracht, mithin auch dieses. 

Ein Teil dieser Bilder - freilich bei weitem noch nicht
[die] der höchsten Handlungen des menschlichen Geistes - sind aus den Kantischen Schriften unter dem Namen der Schemata, und das Verfahren der Einbildungskraft mit denselben unter dem Namen des Schematis-mus bekannt. Die ganze Transzendentalphilosophie soll und kann nichts anderes sein, als ein getroffenes Schema des menschlichen Geistes überhaupt. 

Wer sieht nicht, dass dies der Einbildungskraft ein ganz neues und ungeahntes Geschäft gibt; ein Geschäft, das ihr nur um weniges leichter sein wird, als ihr Entwerfen der Bilder überhaupt beim Anfange des irdischen Lebens war?

Wer sieht nicht, daß die Gefühle für diese Bilder um eine Region tiefer im menschlichen Gemüte liegen, und dass das Vermögen, dieselben zu entwerfen, ganz eigentlich dasjenige sei, was wir als Geist beschrieben haben? Wer sieht demnach nicht, dass die Möglichkeit des Stoffes aller Philosophie Geist voraussetze, und dass ohne Geist alles Philosophieren völlig leer und ein Philosophieren über das absolute Nichts ist?

Dass ich darüber ein erschöpfendes Beispiel anführe. - Es ist wohl keinem unter Ihnen völ-lig unberkannt, dass an einer streng wissenschaftlichen Transzendentalphilosophie unter dem Namen einer Wissenschaftslehre gearbeitet und dass dieselbe auf dasjenige aufgeführt
[aufgebaut] wird, was als reines Ich übrigbleibt, nachdem man von allem abstrahiert hat, wovon nur abstrahiert werden kann. Eine solche Wissenschaft kann keine andere Regel geben als die: Man abstrahiere von / allem, wovon man abstrahieren kann, bis etwas übrig bleibe, wo-von völlig unmöglich ist zu abstrahieren: Dies Übrigbleibende ist das reine Ich, welches zu-gleich als reines Ich als Regulativ für das Denkvermögen vollkommen bestimmt ist. Es ist dasjenige, von dem man schlechterdings nicht abstrahieren kann, weil es das Abstrahierende selbst ist, oder, was gerade das[selbe] heißt, dasjenige, was sich selbst schlechthin setzt. 

Diesen Satz kann man nun als bloßes Regulativ für das Denkvermögen fassen; es muss ihm
[nur] im Laufe der Untersuchung nicht widersprochen werden, und so wird man denn aus ihm gar leicht die Unzulänglichkeit aller Systeme dartun können, in denen irgend etwas, so gering dasselbe auch sei, angenommen wird, gegen welches das Ich bloß sich leidend ver-halten soll; weil dem Ich, so gewiss es ein Ich sein soll, gar nichts zukommen kann, das es sich nicht selbst zuschriebe und gegen welches es sich demnach nicht auch zugleich tätig verhalte.

Wenn man aber auch gleich diesen ganz richtigen Gebrauch von jenem Satze macht, so bleibt es noch immer gar wohl möglich, dass man bloß den Buchstaben desselben gelernt, nicht aber seinen Geist aufgefasst habe. Man macht Gebrauch von der Formel, in der jener Satz ausgedrückt ist, weil man sie etwa auf Treu und Glauben angenommen hat, oder weil man ihre Brauchbarkeit zur bestimmten Erklärung alles dessen, was die Philosophie erklä-ren soll, bemerkt: Aber man hat auch nichts als eine Formel, wenn man nicht die Anschau-ung dessen hat, was durch sie ausgedrückt ist. Gesetzt auch man trüge ein System vor, das für einen Andern Geist und Leben bekommen möchte, so hat es für uns doch keinen, son-dern ist für uns nur bloße Formularphilosophie.
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J. G. Fichte, "Über den Unterschied des Geistes und des  Buchstabens in der Philosophie" in Von den Pflichten der Gelehrten, Hamburg 1971 [Meiner], S. 72f.;


Nota. -  Zuerst also eine Berichtigung: Von den Vorträgen Über Geist und Buchstaben... sind, anders, als ich in meinem Kommentar zu  einem früheren Eintrag schrieb, die ersten drei sehr wohl als Ms. enthalten; erst die folgenden
, die Fichte für Schillers Horen umge-arbeitet hat, sind verloren.


Der Wissenschaftslehre selbst fügen diese Prolegomena sachlich nichts hinzu: Sie entwik-keln keine Gedanken, sondern berichten sie, und das gilt bei Fichte nicht als Philosophie. Aber sie erläutern, und dies in entscheidenden Punkten, wie dieses und jenes, das in den folgenden Darstellungen der Wissenschaftslehre entwickelt werden wird, von Fichte ge-meint ist. Es wird mir klar, dass ich mir einige Wirrungen, die mir bei meinem Fichte-Stu-dium untergekommen sind, hätte ersparen können, wenn ich mich um diesen Auftakt zu seiner Lehrtätigkeit früher bekümmert hätte.
JE,
23. 8. 17

 

Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE

Donnerstag, 29. Mai 2025

Nur zufällig und bedingt vernünftig.

bild.de                             zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Gesetzt, er handelte so, dass seine Handlung zwar durch die sinnlichen Prädikate der vor-hergehenden bestimmt sei - und das ist schon zufolge des Naturmechanismus der Natur notwendig -, nicht aber durch die geschehene Anerkennung meiner als eines freien Wesens, d. i. er raubt mir durch sein Handeln die mir zukommende Freiheit und behandelt mich in-soweit als Objekt: so bin ich immer genötigt, die Handlung ihm, dem gleichen Sinnenwesen C zuzuschreiben. (Es ist z. B. die gleiche Sprache, der gleiche Gang u.s.f.)

Nun ist der Begriff dieses Sinnenwesens C durch die Anerkennung und vielleicht durch eine Folge von Handlungen, die dadurch bestimmt sind, in meinem Bewusstsein vereinigt mit dem Begriffe der Vernünftigkeit, und was ich einmal vereinigt habe, kann ich nicht trennen. Aber jene Begriffe sind gesetzt als notwendig und wesentlich vereinigt; ich habe Sinnlichkeit und Vernunft in Vereinigung als das Wesen von C gesetzt. Jetzt in der Handlung X muss ich sie notwendig trennen und kann ihm die Vernünftigkeit nur noch zufällig zuschreiben.

Meine Behandlung seiner als ein vernünftiges Wesen wird nun selbst auch zufällig und be-dingt und findet nur für den Fall statt, dass er selbst mich so behandele. Ich kann demnach mit vollkommener Konsequenz, die hier mein einziges Gesetz ist, ihn für diesen Fall behan-deln als bloßes Sinnenwesen; so lange, bis beides, Sinnlichkeit und Vernünftigkeit in dem Begriffe von seiner Handlung wieder vereinigt ist.
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J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, SW Bd. III, S. 49



Nota. - Ich muss vorderhand davon ausgehen - und das heißt: danach handeln -, dass C ein vernünftiges Sinnenwesen ist. Handelt er dieser Voraussetzung entgegen, indem er die Sphäre meiner Freiheit verletzt, so darf ich ihn in diesem Fall als bloßes Sinnenwesen be-handeln; bleibt aber übrig, dass ich selbst als Vernunftwesen gesetzt bleibe und meine Grenze nicht überschreiten darf.

Zum Beispiel holt er aus, um mir eine Keule auf den Kopf zu schlagen. Diese Freiheit darf ich ihm verwehren. Doch wenn ich ihn zu Boden gestreckt habe, muss ich ihn am Leben lassen: Die Freiheit, ihn umzubringen, muss ich mir verwehren.

Mit andern Worten, ich muss zwar allezeit so handeln, nämlich positiv: "kategorisch", als ob der andere ein freies und vernünftiges Wesen sei; in meinem Bewusstsein bleibt es indes stets eine problematische Voraussetzung: Es muss sich in seinen Handlungen erweisen. Nämlich im jeweiligen Fall. 

Ob der Andere frei und vernünftig ist, kann ich nicht wissen; indes werde ich so handeln müssen, als ob, denn das ist die Bedingung, dass auch er so handeln kann, als ob er frei und vernünftig sei
.
19. 12. 19
 
Nota II. - In der notwendig diskursiv verfahrenden Darstellung der Wissenschaftslehre muss es so aussehen, als werde die Reihe vernünftiger Wesen und die von ihr ausgehende Auffordung zum freien Handeln erst nachträglich und von außen hinzugezogen. Sie sind aber nicht Glieder in einer kausalen Kette, sondern konstitutives Ingrediens eines Bedin-gungs komplexes, der zwar von Anfang an in petto lag, aber erst jetzt zur Sprache kommen kann, weil erst jetzt bestimmt wurde, was er zu bedingen hatte.

Das ist im übrigen keine Hirnweberei, sondern es ist wirklich so; ein freiheitlicher Rechts-staat beruht darauf. Anderswo gilt es immerhin als noch offener Anspruch.
JE, 31. 5. 21
 

Mittwoch, 28. Mai 2025

Das Ich findet sich als sich selbst vorausgesetzt.

schubalu, pixelio.de                            aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Alles Bewusstsein ist begleitet von einem unmittelbaren Selbstbewusstsein, genannt intel-lektuelle Anschauung, und nur in Voraussetzung dessen denkt man. Das Bewusstsein aber ist Tätigkeit, und das Selbstbewusstsein insbesondere in sich zurückgehende Tätigkeit der Intelligenz, oder reine Reflexion.

Alles zufolge angestellter Selbstbeobachtung. Diese reine Reflexion als Begriff angesehen wird gedacht durch ich. Ich setze mich sonach schlechthin durch mich selbst, und durch dieses Selbstsetzen ist alles andere Bewusstsein bedingt.
S. 34 

Jene Tätigkeit der Reflexion als solche, durch welche die Intelligenz sich selbst setzt, wird, wenn sie angeschaut wird, angeschaut als eine sich bestimmende Agilität, und diese wird angeschaut als ein Übergehen aus dem Zustande der Ruhe und Unbestimmtheit, die jedoch bestimmbar ist, zu dem der Bestimmtheit. Diese Bestimmbarkeit erscheint hier als das Ver-mögen, Ich oder NichtIch zu denken, und es werden sonach in dem Begriffe der ersten die beiden letzten Begriffe notwendig mitgedacht und einander gegenüber gesetzt. Beide Begrif-fe erscheinen sonach bei Erregung der selbsttätigen Reflexion als etwas unabhängig von derselben Vorhandenes, und der Charakter des NichIch ist das Sein, eine Negation. S. 43 

Aus der ursprünglichen Anschauung entstehen zwei Reihen, die subjektive oder das Beab-sichtigte und das Objektive oder das Gefundene; beide können nicht getrennt werden, weil sonst keine von beiden ist. Beide Ansichten desselben, subjektive und objektive, sind bei-sammen, heißt: Sie sind nicht nur in der Reflexion unzertrennlich, sondern sie sind auch als Objekte der Reflexion eins und dasselbe. Die Tätigkeit, die in sich zurückgeht, welche sich selbst bestimmt, ist keine andere als die bestimmbare, es ist dieselbe und unzertrennliche.

Das NichtIch ist also nichts anderes, als bloß eine andere Anschauung des Ich. Das Ich als Tätigkeit betrachtet gibt das Ich, das Ich in Ruhe betrachtet das NichtIch. Die Ansicht des Ich / als tätiges kann nicht stattfinden ohne die Ansicht des Ich als ruhenden, d. h. Nicht-Ich. Daher kommts, dass der Dogmatiker, er das Ich nicht in Tätigkeit denkt, gar kein Ich hat. Sein Ich ist Accidens des NichtIch. Der Idealismus hat kein NichtIch, das NichtIch ist ihm nur eine andre Ansicht des Ich. Im Dogmatismus ist das Ich eine besondre Art vom Dinge, im Idealismus das NichtIch eine besondre Weise – das Ich anzusehen. 42f.
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J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, SS. 34; 43; 42f.  



Nota. - Phänomenal vorausgesetzt ist die Intelligenz - ohne weitere Bestimmung: Das Be-stimmen soll in der Reflexion, im Sich-selbst-Setzen der Intelligenz ja erst beginnen. 'Die Intelligenz' ist ein X. Sich setzen=sich bestimmen geschieht, indem die noch-ruhende und eo ipso noch unbestimmte Intelligenz übergeht in den tätigen Zustand des sich-selbst-Be-stimmens. Dieses Übergehen geschieht ohne Grund, Ursache oder andere Bedingungen: aus Freiheit.

Durch den primären Akt des sich-selbst-Bestimmens wird der vorangegangene Zustand der Unbestimmtheit als ein solcher erst gesetzt; retrospektiv, als dem primären Akt... vorher ge-setzt!

Indes: Dies alles sind keine anschaulichen Fakten, sondern Begriffe, die überhaupt erst in der Reflexion auftauchen; aber eben als Begriffe, die als solche ruhen - und vorgestellt wer-den als dem ursprünglichen Akt vorausgesetzt. Indem die tätige Intelligenz sich durch den Begriff bestimmt, setzt sie sich als zuvor Untätige; indem sie subjektiv wird, wird sie sich zum Objekt. Zu einem Ich wird sie, indem sie sich zum Nichtich wird. Das Ich findet sich vor als sich selbst vorausgesetzt. Freilich nur, sofern es sich finden will, daran sei stets er-innert.

Als Nichtich findet sich das Ich vor als den ersten Gegenstand, das erste Objektive, das ihm begegnet. Das ist die Grundlage aller seiner Bekanntschaft mit der Welt. Aller Gegenstand ist seither eines, das ihm begegnet. Nur so wird ihm eine Welt und nur so ist er in der Welt. Das Ich, das sich findet als sich selbst vorausgesetzt, ist die Paradoxie, in der alle rationelle Dialektik gründet. Es spaltet sein agiles Vermögen in einen realen und einen idealen Anteil und legt den Grundstein für eine intelligible Welt.
JE,
7. 6. 18

 

Dienstag, 27. Mai 2025

Das Ich setzt sich (als) sich-selbst voraus(gesetzt).

V. Gagarin                                          zu Wissenschaftslehre: die fast vollendete Vernunftkritik

Wir wollen zweitens auf das gedachte Denken sehen. Das Ich soll wählen, wie gesetzt wird, oder (das Ich denkt) unter dem Mannigfaltigen, um sich selbst zu bestimmen, so dass das Objekt seines Willens in der Sinnenwelt wirklich werde. Also das Wählen setzt sich selbst voraus, es weiß es schon, dass es wählen kann und Kausalität hat, das Ich ist also mit sich selbst schon vollständig bekannt, es setzt sich in der Entwerfung des Zweckbegriffs voraus, dies ist hier der Hauptpunkt! 

Zuvörderst - wie setzt sich das Ich voraus, notwendig voraus in jenem Wählen? (Der Form nach nicht, was ist es materialiter?) Das Ich selbst in diesem Akte ist bloß Bestimmbares, nicht Bestimmtheit, es schreibt sich nicht eine bestimmte Kausalität zu dem oder jenem Erfolg zu, sondern setzt eine Kausalität überhaupt voraus.  

Man wolle doch ja Abstraktionen und konkrete Wahrheiten [sic] bemerken, zu erstern ge-hört der Moment, wo ein Zweckbegriff gefasst wird. Es ist der Begriff von meiner Wirk-samkeit überhaupt, nicht Wahrnehmung einer bestimmten Wirksamkeit. Es ist eine solche Gestalt, in der ich mich selbst in Entwerfung des Zweckbegriffs finde. 

Das Ich wird nur über/haupt hingedacht, es ist eine abstraktes Denken, ein Schweben über Entgegengesetzten, doch mit dem Bewusstein, dass es Entgegengesetzte sind: so im Ent-werfen des Zweckbegriffs meiner selbst, das Denken. Aber wies Denken ist, fällt auch sein Objekt aus, denn beides ist ja nur ein aus verschiedenen Ansichten Verschiedenes.
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J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 190f.
   



Nota. - Statt konkreter Wahrheiten wird F. wohl konkrete Wahrnehmungen gemeint haben. Hier kommt es aber auf die Abstraktionen an: Diese erscheinen erst der 'idealen' Tätigkeit
= Reflexion. ('Bedeutung überhaupt' gibt es nicht, es ist nur eine nachträgliche Abstraktion.)

- Das Ich setzt sich nicht schlechtweg: "Hoppla, jetzt kommt Ich!", sondern setzt sich als sich selbst vorausgesetzt; so, als ob es 'schon immer da gewesen' sei. Darum kann es sich einen wirklichen Anfang auch nicht vorstellen (und ein Ende will es sich nicht vorstellen). 

Darum sind die empirischen Iche auch so leicht dazu zu überreden, dass sie "eigentlich" nur ein irdisches Akzidens einer überirdischen Substanz wären: Da fühlen sie sich nicht mehr so auf sich allein gestellt. Als Jacobi an Fichte schrieb, er bräuchte zum Leben etwas, woran er glauben kann, meinte er weniger den heiligen Geist, der ihn ruft, als vielmehr die sichere Hand eines Schöpfers, in der er ruht wie in Abrahams Schoß. 

Das Ich setzt nicht nur sich selbst, sondern sich selbst als seinen eigenen Schöpfer. Das ist eine Anmaßung, und es wird ein Leben lang zu tun haben, ihr gerecht zu werden. Doch anders kann es nicht sein eigner Herr sein.
JE, 25. 2. 17

 

 

Sonntag, 25. Mai 2025

Apriori und aposteriori: von vorn betrachtet und von hinten.

Stefan Zerfaß             aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Inwiefern man jene letzten Resultate des Idealismus ansieht, als solche, als Folgen des Raisonnements, sind sie das a priori, im menschlichen Geiste; und inwiefern man eben-dasselbe, falls Raisonnement und Erfahrung wirklich übereinstimmen, ansieht, als in der Erfahrung gegeben, heisst es a posteriori. Das a priori und das a posteriori ist für einen vollständigen Idealismus gar nicht zweierlei, sondern ganz einerlei; es wird nur von zwei Seiten betrachtet, und ist lediglich durch die Art unterschieden, wie man dazu kommt. Die Philosophie anticipirt die gesammte Erfahrung, denkt sie sich nur als nothwendig, und in-sofern ist sie, in Vergleich mit der wirklichen Erfahrung, a priori. A posteriori ist die Zahl, inwiefern sie als gegebene betrachtet wird; a priori dieselbe Zahl, inwiefern sie als Product aus den Factoren gezogen wird. Wer hierüber anders meint, der weiss selbst nicht, was er redet. /

Der Chemiker setzt einen Körper, etwa ein bestimmtes Metall, aus seinen Elementen zu-sammen. Der gemeine Mann sieht das ihm wohl bekannte Metall; der Chemiker die Ver-knüpfung des Körpers und der bestimmten Elemente. Sehen denn nun beide etwas ande-res? Ich dächte nicht; sie sehen dasselbe, nur auf eine andere Art. Das des Chemikers ist das a priori, er sieht das Einzelne: das des gemeinen Mannes ist das a posteriori, er sieht das Ganze. – Nur ist dabei dieser Unterschied: der Chemiker muss das Ganze erst analysiren, ehe er es componiren kann, weil er es mit einem Gegenstande zu thun hat, dessen Regel der Zusammensetzung er vor der Analyse nicht kennen kann; der Philosoph aber kann ohne vorhergegangene Analyse componiren, weil er die Regel seines Gegenstandes, die Vernunft, schon kennt.
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J. G. Fichte, Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre, SW I, S. 447; 449 

 

 

Samstag, 24. Mai 2025

Anschauen und fühlen.

    zu Philosophierungen, oder Das Vernunftsystem

Das Anschauen [ist,] im Gegensatz mit dem Gefühle[,] Tätigkeit.
J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, S. 81 

Ich fühle keinen Gegenstand, ich fühle nicht einmal den Widerstand, den er meiner Tätig-keit leistet. Ich fühle, punctum. Das einzige Etwas, das in meinem Fühlen vorkommt, bin ich selbst. Dass es ein Gegenstand war, der dieses mein Fühlen verursacht hat, ist eine Schlussfolgerung meiner Reflexion: So "muss es ja" gewesen sein. - Das heißt Anschauung; mit ihr beginnt das Denken in specie. 

(Im Anschauen sind Setzen und Bestimmen unmittelbar dasselbe; Bestimmen allerdings nur als dieses, nicht als Das.)
JE 23. 11. 19 
 
 
 

Freitag, 23. Mai 2025

Das Reich der Freiheit beginnt, wo die Arbeit aufhört.

Mattheuer, Die Flucht des Sisyphus, 1972                                                      aus Marxiana

Der wirkliche Reichtum der Gesellschaft und die Möglichkeit ständiger Erweiterung ihres Reproduktionsprozesses hängt also nicht ab von der Länge der Mehrarbeit, sondern von ihrer Produktivität und von den mehr oder minder reichhaltigen Produktionsbedingungen, worin sie sich vollzieht. Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und bloße Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt der Natur der Sache nach jenseits der eigentlichen materiellen Produktion.

Wie der Wilde mit der Natur ringen muss, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so muss es der Zivilisierte, und er muss es in allen Gesellschaftsformationen und unter allen möglichen Produktionsweisen. Mit seiner Ent-wicklung erweitert sich dies Reich der Naturnotwendigkeit, weil die Bedürfnisse
[sich erweitern]; aber zugleich erweitern sich die Produktivkräfte, die diese befriedigen. 

Die Freiheit in diesem Gebiete kann nur darin bestehen, dass der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinsame Kontrolle bringen, statt von ihnen als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollzieht. Aber es bleibt immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann. Die Verkürzung des Arbeitstags ist ihre Grundbedingung.

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Karl Marx. Das Kapital III
, MEW Bd. 25, S. 826

 

Donnerstag, 22. Mai 2025

Rückbezügliches Apriori.

kurier                                                                                              zu Marxiana

Die nächst zu beantwortende Frage ist die, was bildet eine Klasse? Und zwar ergiebt sich dieß von selbst aus der Beantwortung der andren Frage: Was macht Lohnarbeiter, Capitali-sten, Grundeigenthümer zu Bildnern der 3 grossen gesellschaftlichen Klassen?

Auf den ersten Blick die Dieselbigkeit ihrer Revenuen und Revenuequellen. Es sind 3 grosse gesellschaftliche Gruppen, deren individuelle Bestandtheile, eben die Individuen, woraus sie bestehn, respective von Arbeitslohn, Profit und Grundrente, von der Verwerthung ihrer Ar-beitskraft, ihres Capitals oder ihres Grundeigenthums leben.
 
Indeß würden von diesem Standpunkt aus z. B. Aerzte und Beamte auch zwei Klassen bil-den, denn sie gehören zwei distincten gesellschaftlichen Gruppen an, deren Revenuen für die Mitglieder von je der beiden Gruppen aus derselben Quelle fliessen. Dasselbe gälte für die unendliche Zersplitterung der Interessen und Stellungen, worin die Theilung der gesell-schaftlichen Arbeit die Arbeiter, wie die Kapitalisten und Grundeigenthümer (letztre z. B. in Weinbergsbesitzer, Minenbesitzer, Fischereibesitzer, Aeckerbesitzer) spaltet. 
Hier bricht das Manuskript ab.
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Karl Marx, Ökonomisches Manuskript 1863-1865, Bd. II, S. 902, in MEGA II/4.2.
 
 
Nota. - Die Unterscheidung der Gesellschaftsklassen nach der Quelle ihres Einkommmens gilt nur "auf den ersten Blick". Sie nimmt Klassen naiv als Summe von Individuen. Es ist aber keine persönliche Eigenschaft eines Menschen, Lohnarbeiter, Kapitalist oder Grund-besitzer zu sein. Es sind gesellschaftliche Bestimmungen, die seinen individuellen Geschik-ken vorauslagen.
 
Es musste die Klassenlage dargestellt werden, die ihnen ihre spezifische Stellung im gesell-schaftlichen Aufbau anweist. 
 
Marx musste sich daher noch einmal die sogenannte ursprüngliche Akkumulation des Ka-pitals vornehmen - und insbesondere das irrtümlich sogenannte Formenkapitel der soge-nannten Grundrisse in die Darstellung einarbeiten - denn dass er ein System als ein solches darstellen musste, war spätestens hier klar geworden.
 
Damit endet das Konvolut des Ökonomischen Manuskripts 1863-65. Im ersten Band sollte - wie auch in der Endfassung - der Produktionsprozess des Kapitals dargestellt werden, aber Marx verlor sich immer wieder in Abschweifungen ins Material, Daten jede Menge, Statisti-ken und mathematische Modelle. Unzufrieden begann er erneut. Diesmal kam er immerhin bis zum Zirkulationprozess. Auch damit nicht zufrieden, beginnt er erneut beim Produkti-onsprozess.
 
Und da sind wir nun.
 
Auch die Endfassung beginnt schließlich mit dem Produktionsprozess des Kapitals. Aber nun führt er ihn fort: nämlich mit der Frage, wo das Kapital, das er bereits hatte produzie-ren lassen, überhaupt hergekommen war. Und er schließt mit der historischen Vorausset-zung, die sich in einer logischen Mystifikation unkenntlich gemacht hatte: der Trennung der Arbeit von ihren sachlichen Bedingungen, der Enteignung und Vertreibung des Landvolks vom Boden und der Schaffung einer freien Arbeiterklasse; schließt mit dem Kapitel über Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation.

Das allerdings erst in der zweiten, der 'Volksausgabe' von 1873!
Auch Marx hat es sich mit dem System-Problem nicht leicht gemacht.*

*) Nicht aber so, dass er es spekulativ umschifft hätte, im Gegenteil. In der ersten Auflage hatte er an dieselbe Stelle ein hochtheoretisches Kapitel über Die Wertform gesetzt. Das war dann aber selbst den deutschen Pro-fessoren zu 'dialektisch'. Doch ist die mehr didaktische Fassung mit der Ursprünglichen Akkumulation als nach-träglichem Systemgrund nicht nur anschaulicher, sondern theoretisch sogar tiefsinniger; ich meine: gerade, weil sie nachgeschoben wird.  
In der neuen MEGA fehlt sie noch immer. 
JE

Mittwoch, 21. Mai 2025

"Autopoietisches System".

faz.net                            zu Marxiana

In England ist unstreitig die moderne Gesellschaft, in ihrer ökonomischen Gliederung, am weitesten, klassischsten entwickelt. Dennoch tritt diese Klassengliederung selbst hier nicht rein hervor. Mittel- und Uebergangsstufen vertuschen auch hier (obgleich auf dem Land unvergleichlich weniger als in den Städten) überall die Grenzbestimmungen. Indeß ist dieß

für unsre Betrachtung gleichgültig. Man hat gesehn, daß es die beständige Tendenz und das Entwicklungsgesetz der capitalistischen Productionsweise ist die Productionsmittel von der Arbeit mehr und mehr zu scheiden, und die zersplitterten Productionsmittel mehr und mehr in grosse Gruppen zu concentriren, also die Arbeit in Lohnarbeit und die Producti-onsmittel in Capital zu verwandeln. Und dieser Tendenz entspricht auf der andren Seite die selbstständige Scheidung des Grundeigenthums von Kapital und Arbeit,1) oder die Ver-wandlung alles Grundeigenthums in die der capitalistischen Productionsweise entspre-chende Form des Grundeigenthums. 
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Karl Marx, Ökonomisches Manuskript 1863-1865, Bd. II, S. 902, in MEGA II/4.2.
 
 
Nota. - Das Kapital muss zum System erst werden: indem es nämlich sich selber dazu aus-bildet und alle von ihm historisch vorgefundenen Formen von Eigentum und Arbeit seinem Wert-Gesetz unterwirft. Das Verfahren ist schlicht und einfach die fortschreitende Einbe-ziehung aller Produkte in den Tauschverkehr. Zum Beispiel indem der Grundeigentümer seinen Anteil an der Naturalform des Ackerprodukts in einen fixen Geldbetrag umwandelt - und den Bauern nötigt, sein Produkt zuerst zu Markt zu tragen. System wird es im allerfas-senden Warenverkehr - vermittelt durchs Geld. Schließlich werden selbst Dinge zu Waren, die garnicht durch Arbeit hergestellt wurden - wie Gewissen, Ehre und Jungfräulichkeit.
 
Ist das Marktgeschehen einmal so weit gediehen, um als System erkannt zu werden - von Dr. Quesnay und den Physiokarten -, muss seine wissenschaftliche Darstellung bei diesem Begriff ihren Ausgang nehmen. Alles andere ist "Vulgärokonomie".
 
Nachtrag:
Der erste Grundsatz lautet hier: Waren tauschen sich gegeneinander nach Maßgabe der in ihnen enthaltenen gesellschaftlich notwendigen Arbeit. - Aber zum Grund-Satz wird er erst mit der historisch-faktischen Zeit: Nicht, indem alles von ihm herkommt, sondern indem schließlich alles auf ihn hinausläuft.
JE
 
 
PS. Das Manuskript von 1863-65 umfasst mehrere erste Versuche, die planlose (!) Niederschrift der fälschlich so genannten Grundrisse in eine zusammenfassende, wissenschaftlich systemati-sche Gestalt zu bringen. Es ist die erste Fassung des Hauptwerks Das Kapital. Kritik der politi-schen Ökonomie.
 
 
 

Dienstag, 20. Mai 2025

Muss es einen Ersten Grundsatz geben?

123RF                                                      aus Wissenschftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik
Vorläufige Bemerkung

Es ist neuerdings sehr geeifert worden gegen das Aufstellen eines ersten Grundsatzes in der Philosophie; von einigen, weil sie etwas dabei denken, von anderen aber, weil sie die Mode mitmachen.

Diejenigen, welche sagen: Sucht keinen ersten Grundsatz, können sagen wollen entweder, Ihr sollt in der Philosophie überhaupt nicht systematisch verfahren, so etwas ist unmöglich – werden widerlegt durch das wirkliche Aufstellen eines Systems.*

Oder: Alles Beweisen geht aus von einem Unbewiesenen. Was heißt beweisen? Es heißt doch wohl bei dem, der sich einen deutlichen Begriff davon macht, die Wahrheit eines Sat-zes an einen andern anknüpfen; ich leite die Wahrheit eines bekannten Satzes auf einen an-dern über. Wenn aber dies beweisen heißt, dann muss es in den Menschen eine Wahrheit geben, die nicht bewiesen werden kann und die keines Beweises bedarf, von der aber selbst alles andere abgeleitet wird. Sonst gibt es keine Wahrheit, und wir werden ins Unendliche getrieben.
_________________________________________________________ 
J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 27


Nota. – Soviel zu unsern heutigen "Systematikern", die nicht wissen, was der Name, den sie gewählt haben, historisch wie semantisch bedeutet.
22. 11. 19

*) Und übrigens: Nicht weniger ist meine Ambition. Suchen Sie nur geduldig in diesem Blog nach, ob ich ihr gerecht werde.
JE

Das ursprüngliche Simulacrum.

                                   zu   Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik Vorstellen ist anschauen als ob . Das ursprü...