Freitag, 9. Mai 2025

Das Mögliche.

  Canciani, Lanciasassi                        aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Was in der Sphäre des Bestimmbaren liegt, ist das Handeln. Jedes Mögliche muss etwas dem Ich Angehöriges (Tätigkeit) und etwas ihm Widerstrebendes sein. Dieses Etwas ist als ein wirkliches Handeln nicht gesetzt; was also davon dem Ich angehört, ist nicht zu erklären aus einer wirklichen Selbstaffektion. Das Ich wird hier nur gesetzt als das Vermögen des Han-delns in diesem Mannigfaltigen. Nun kommt aber dieses Vermögen hier nicht vor als ein bloßes Vermögen, als ein Mögliches im Denken, sondern als ein Anschaubares, welchem in sofern der Charakter des Seins zukommt. 

Der Charakter des Seins ist Bestimmtheit, folglich müsste hier liegen ursprüngliche Be-stimmtheit zum Handeln überhaupt. – Das Ich, sobald es gesetzt ist, ist nicht frei zu han-deln überhaupt, sondern nur, ob es dieses oder jenes handeln will. Wir bekommen hier ein notwendiges Handeln. Das Wesen des Ich ist Tätigkeit, folglich wäre hier ein Sein der Tätig-keit. Das den Begriff von seinem Willen entwerfende Ich ist gebunden, aber die Gebunden-heit deutet auf ein Sein, und zwar auf ein eigentliches Sein. Das Bindende und insofern Set-zende ist dem Ich angehörig, aber das Ich ist hier praktisch (Tätigkeit), sonach ist hier ein Sein der Tätigkeit. 

Beide sich widersprechende Begriffe sind hier vereinigt (nämlich Sein und Tätigkeit), und diese Vereinigung wird hier betrachtet als ein Gefundenes. Ich finde etwas, aus welchem ich mein Handeln zusammensetze; in diesem liege ich selbst, also hier wird Tätigkeit gefunden. Diese Tätigkeit ist eine zurückgehaltene Tätigkeit, und davon bekommt sie den Charakter des Seins. So etwas ist aber ein Trieb, ein sich selbst produzierendes Streben, das im Innern dessen, dem es zugehört,  gegründet ist
[...], es ist Tätigkeit, die kein Handeln ist, etwas An-haltendes, die ideale Tätigkeit Bestimmendes, eine innere, fortdauernde Tendenz, den Wi-derstand zu entfernen.
______________________________________________________
J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 66


Nota I. - Möglichkeit ist keine logische, sondern eine praktische Kategorie. Sie gehört nicht zum Gegenstand, sondern zum Subjekt: als ein wählbarer Zweckbegriff. Wo eine Möglich-keit auftritt, ist ein Ich noch im Deliberieren befangen. Sie ist Handlung in der Schwebe. 
 24. 10. 15

Nota II. - Dass Kant die Möglichkeit neben Wirklichkeit und Notwendigkeit in seine Kate-gorientafel aufgenommen hat, macht sein ganzes Apriori fragwürdig. Dass es in unserem Vorstellungsvermögen an diese Stelle gehört, sei unbestritten. Aber mit seiner Weigerung, das Woher der Kategorien überhaupt zum Thema zu machen und dem Wink mit dem Zaunpfahl, es könne sich wohl um eine göttliche Eingebung handeln, umgibt er sie mit ontischen Glanz und nährt die Annahme, es könne sich um eine ferne Botschaft aus dem Ansich handeln. 

Kaum fällt einem das auf, bemerkt man, dass Kant nicht nur offenlässt, woher die Katego-rien selber stammen, sondern auch nicht berichtet, wie er sie gefunden hat. Vier mal drei macht ein Dutzend, das sieht so aus, als ob ein intelligenter Designer sich was dabei gedacht hat. Doch um Himmelswillen: was denn? Er hat sich was dabei gedacht, nämlich die Ab-sicht, das Wissen aufzuheben, "um zum Glauben Platz zu bekommen".* Davon mag man halten, was man will, doch ein wissenschaftliches Motiv ist es nicht. Fichte ist nicht eigent-lich 'über Kant hinaus' gegangen, sondern tiefer in ihn eingedrungen als dieser selbst.
*) KrV, Vorrede zur 2. Auflage, ed. Weischedel, Bd. III, S. 33
JE


 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Der Begriff des Seins ist kein ursprünglicher, sondern ist von der Tätigkeit abgeleitet.

                                 aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik                                               ...