d. Mein Leib muss der Person außer mir sichtbar sein, ihr durch das Medium des Lichts erscheinen und erschienen sein, so gewiss sie auf mich wirkt: wodurch der erste und mindeste Teil unserer Frage beantwortet wäre. Nun soll, nach der notwendigen Voraus-setzung, diese Erscheinung so sein, dass sie schlechterdings nicht zu verstehen und zu begreifen ist, außer durch die Voraussetzung, ich sei ein vernünftiges Wesen; dass sonach dem an- deren angemutet werden könne: So wie du diese Gestalt erblicktest, musstest du / sie notwendig für die Repräsentation eines vernünftigen Wesens in der Sinnenwelt halten, wenn du selbst ein vernünftiges Wesen bist. -
Wie ist dies möglich?
Zuvörderst - was heißt denn verstehen oder begreifen? Es heißt festsetzen, bestimmen, begrenzen. Ich habe eine Erscheinung begriffen, wenn ich ein vollständiges Ganzes der Erkenntnis dadurch erhalten habe, das allen Teilen nach in sich begründet ist; wenn jedes durch alles und alles durch jedes einzelne begründet oder erklärt wird. Dadurch erst ist es vollendet oder begrenzt. -
Ich habe nicht begriffen, wenn ich noch im Erklären bin, wenn mein Dafürhalten noch ein Schweben, und also noch nicht befestigt ist; wenn ich noch von einem Teil meiner Erkenntnis zu anderen Teilen fortgetrieben werde. (Ich habe A, welches ein zufälliges sein soll, nicht begriffen, wenn ich nicht eine Ursache dafür und, da dem A eine bestimmte Art der Zufälligkeit zukommen muss, eine bestimmte Ursache dazu gedacht habe.) Ich kann eine Erscheinung nicht verstehen außer auf eine gewisse Art, heißt daher: Ich werde von den einzelnen Teilen der Erscheinung immer fortgetrieben bis zu einem gewissen Punkt; und erst bei diesem kann ich mein Aufsammeln ordnen und das Aufgesammelte in ein Ganzes der Erkenntnis zusammenfassen.
Ich kann die Erscheinung eines menschlichen Leibes nicht begreifen außer durch die Annahme, dass er der Leib eines vernünftigen Wesens sei, heißt daher: Ich kann bei Auf-sammlung der Teile seiner Erscheinung nicht eher stille stehen, bis ich auf den Punkt ge-kommen bin, dass ich ihn als den Leib eines vernünftigen Wesens denken muss.
Ich will diesen genetischen Beweis strenge führen, d. i. ich will die Hauptmomente des-selben angeben. Ausführlich kann er hier nicht dargestellt werden. Er allein bildet eine eigene Wissenschaft, die Anthropologie.
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J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, SW Bd. III, S. 76f.
Nota. - Im Gefühl - in den Meldungen, die mir meine Sinneszellen machen - sammle ich ohnehin immer nur Mannigfaltiges; 'Teile' - von was? Von einem mutmaßlichen Ganzen, aber ob sie das sind, liegt nicht an ihnen selbst, sondern an der Vorstellung, die ich mir von diesem 'Ganzen' selbst gemacht habe, landläufig: vom Begriff. Ein Ganzes ist ein solches nicht an sich, sondern im Hinblick auf das, was ich mit ihm anfangen zu können denke; nicht einmal 'will'; denn ob ich es will, muss ich erst noch entscheiden. Die Ganz-heit liegt im Zweckbegriff.
So weit, so gut. Das haben wir uns denken können, bevor wir aus der Transzendentalphi-losophie zur Rechtsphilosophie übergegangen sind. Die Frage ist nicht, ob wir aus den Bildern einzelner Körperteile - Arme, Beine, Rumpf und Kopf - die Gestalt eines ver-nünftigen Wesens zusammensetzen können; sondern - ob wir den Begriff eines vernünf-tigen Wesens haben. Und den haben wir spätestens, seit er uns bis zum Rechtsbegriff ge-führt hat.
Man kann es drehen und wenden, wie man will: Der springende Punkt ist, ab welchem 'Punkt' - logisch? historisch? - wir die Reihe vernünftiger Wesen nicht mehr nur als trans-zendentale Bedingung, sondern als faktisch gegeben annehmen können. Dann ist das Vernunftwesen apriori deduziert - und muss nicht von jedem Einzelnen aposteriori re-konstruiert werden. Aber ich fürchte, ich wiederhole mich. F. hat sich davor nicht ge-fürchtet.
JE, 1. 5. 19
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