Samstag, 15. Juli 2023

Die ganze Wissenschaftslehre ist 'intellektuelle Anschauung'.

                       zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Die größte Zumutung, die die Wissenschaftslehre dem gesunden Menschenverstand bietet, ist der Gedanke einer intellektuellen Anschauung. Er liegt ihr allerdings, wenn auch erst nachträglich aufgefunden, zu Grunde. Will sagen: Wer ihn nicht fasst, wird von der Wissen-schaftslehre nichts verstehen.

Natürlich nicht; denn sie ist in ihrer Gänze selber intellektuelle Anschauung. 

"Ganz anders verhält es sich mit der Wissenschaftslehre. Dasjenige, was sie zum Gegen-stand ihres Denkens macht, ist nicht ein toter Begriff, der sich gegen ihre Untersuchung nur leidend verhält, und aus welchem sie erst durch ihr Denken etwas macht, sondern es ist ein Lebendiges und Tätiges, das aus sich selbst und durch sich selbst Erkenntnisse erzeugt, und welchem der Philosoph bloß zusieht. Sein Geschäft in der Sache ist nichts weiter, als daß er jenes Lebendige in zweckmäßige Tätigkeit versetzt, dieser Tätigkeit desselben zusieht, sie auffaßt und als Eins begreift. Er stellt ein Experiment an." Zweite Einleitung in die Wissen-schaftslehre, SW Bd. I, S. 453f.

Zunächst fingiert er nämlich ein X, das in nichts anderem als diesem bestimmt ist: dass es zu bestimmen befähigt ist. Im Fortgang wird sich finden, dass es eo ipso zu bestimmen bestimmt ist. Ihm sieht er zu, was es aus dieser ursprünglichen Bestimmung macht. 'Es' ist ein bloß Gedachtes; "zusehen" wäre ein Sinnliches, Auffindbares. Nicht so hier: Es wird lediglich gedacht; aber als ein selbst Tätiges. Tätigkeit ist, wenn sie real ist, anschaubar; nur Tätigkeit ist anschaubar! Hier aber sollen wir, nach der Aufforderung des Philosophen F., uns ein wirklich Tätiges lediglich vorstellen.

Und dann ihm eben zuschauen: bei dem, was es macht und nach der einzigen gemachten Voraussetzung nicht anders machen kann.

Wohin es uns immer führt - es wird uns bis zu der Reihe vernünftiger Wesen führen - , verlassen wir in keinem Moment das Gedankenexperiment: Es ist eine rein ideelle Opera-tion, der wir so zuschauen, als ob sie wirklich unter unsern Augen geschähe.

Was möchte intellektuelle Anschauung mehr bedeuten? Oder weniger! Weniger als etwa die ganze Wissenschaftslehre von Anfang bis Ende... 

"Zuförderst kommt die intellektuelle Anschauung nicht unmittelbar vor, sondern sie wird in jedem Denkakte nur gedacht, sie ist das Höchste im endlichen Wesen. Auch der Philosoph kann sie nur durch Abstraktion und Reflexion zustande bringen." Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 141f.

Sie wird in jedem Denkakte nur gedacht; aber sie wird in jedem Denkakt gedacht: Sie ist nicht ceterum censeo, sondern das Ich denke, "das alle meine Vorstellungen muss begleiten können"; besonders auch meine Vorstellungen auf der zweiten semantischen Ebene.

 

PS.  Gegenstand der Wissenschaftslehre ist nicht 'ein toter Begriff, der sich gegen ihre Un-tersuchung nur leidend verhält, und aus welchem sie erst durch ihr Denken etwas macht, sondern es ist ein Lebendiges und Tätiges, das aus sich selbst und durch sich selbst Er-kenntnisse erzeugt' - das kann man auch so ausdrücken: Untersuchungsfeld der Wissen-schaftslehre ist nicht ein vorgefundenes System von Begriffen, sondern der Prozess seiner Entstehung im Fortschreiten des sich-selbst-bestimmenden Vorstellens.

30. 11. 20


Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE

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