Der Mensch ist 'bestimmt zu vollständiger und systematischer Kenntnis': woher weiß Fichte das? Nach seiner Lehre ist der Mensch, sofern er Vernunftwesen ist, nur bestimmt als das, wozu er sich selbst bestimmt. Wenn er sagt 'So ist es', kann es sich entweder um die Feststellung eines empirisch Vorgefundenen handeln, oder um ein Postulat: 'So soll es sein.'
Tatsächlich handelt es sich hier um beides; es ist die historisch vorgefundene Tatsache des autonomen bürgerlichen Subjekts; und der Entschluss des theoretischen Philosophen, dies empirisch Gegebene als seinen praktischen Zweck anzusehen. Die Wissenschafts-lehre ist die Anthropologie des bürgerlichen Zeitalters.
19. 7. 17
Anthropologie kann nicht sein die Wissenschaft von dem, was der Mensch ist. Zuerst müsste man doch bestimmen, ab wann man die frühen Hominiden als Menschen anse-hen will, und das setzt voraus - das Wissen, was ein Mensch ist. Die Katze beißt sich in den Schwanz. Was der Mensch ist, kann nicht heraus gefunden werden, wie es eine po-sitive Wissenschaft täte, sondern nur hinein erfunden. Und wenn's auch ein noch so ru-dimentärer Anhaltspunkt wäre - ein Postulat wäre es in jedem Fall.
Man wird dann sehen, wohin - oder wie weit - eine so postulierte Prämisse führt - und das Resultat vergleichen mit dem, was der Mensch, nach dessen Bestimmung ja gefragt wurde, bislang schonmal geworden ist. Passen Ausgangspunkt und Jetztzustand zusammen - was keine empirische Feststellung wäre, sondern ein sinnhafte Interpretation -, so beweist das gar nichts, es könnte künftig immer noch dementiert werden. Doch bislang wurde es nicht dementiert, und es ist weise, den eingeschlagenen Weg weiter zu verfolgen.
Die Prämisse, die die Wissenschaftslehre gewählt hat, ist die vom ursprünglichen sich-selbst-Setzen und -Bestimmenwollen, alias von der Vernünftigkeit des Menschen.
In jedem Moment der Geschichte wird wieder gefragt, ob sich diese Prämisse angesichts von Allem, was geschehen ist, denn halten ließe. Die Frage ist verständlich, aber unbe-rechtigt. Denn nach allen offenkundigen Abwegen sind sie doch jedesmal wieder überein-gekommen, auf den Weg der Vernunft zurückzukehren. Und das ist nicht bloßer Lippen-dienst, sondern soweit unter den gegebenen Bedingungen möglich, sind tatsächlich Fort-schritte geschehen. Dass der Weg der Vernunft ein breiter, gerader und ebener wäre und ohne Mühe gangbar - wer hat das je behauptet?
Aber dass ihn die Menschheit je aus den Augen gelassen hätte, kann auch niemand be-haupten. Nämlich zumindest nicht in dieser einen Hinsicht: die Absicht auf "vollständige und systematische Kenntnis", mit andern Worten, die Wissenschaft, hat nie geruht. Hi-storisch könnte man sagen: Die Menschen haben sich selbst dazu bestimmt.
26. 5. 19
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