Mittwoch, 19. Juli 2023

Eine prädikative Qualität, oder: Wo war das Ich, bevor es sich 'gesetzt' hat?

                                             aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Was es auch sein möge, das den letzten Grund einer Vorstellung enthält, so ist wenigstens so viel klar, dass es nicht selbst eine Vorstellung sei und dass eine Umwandlung damit vor-gehen müsste, ehe es fähig ist, in unserm Bewusstsein als Stoff einer Vorstellung ange-troffen zu werden. / Das Vermögen dieser Umwandlung ist die Einbildungskraft. – Sie ist Bildnerin. Ich rede nicht von ihr, insofern sie ehemals gehabte Vorstellungen wieder her-vorruft, verbindet, ordnet, sondern indem sie überhaupt etwas erst zu einer Vorstellung macht. – Sie ist insofern Schöpferin des eigenen Bewusstseins. Ihrer, in dieser Funk/tion, ist man sich nicht bewusst, gerade weil vor dieser Funktion vorher gar kein Bewusstsein ist. Die schaffende Einbildungskraft. Sie ist Geist. 

Resultat. Dieses Bild müssen wir selbst bilden. 

Nun muss im Ich das liegen, was sie bildet. 

(Wo ist der eigentliche philosophische Beweis dafür, dass die Einbildungskraft etwas im Ich zum Gegenstande haben müsse? - - Sie ist tätig - aber nicht auf das Ich, sondern auf ein Nicht-Ich. - Das Ich ist schon, wenigstens virtualiter, hervorgebracht, denn sowie sie ihr Produkt vorhält, hält sie es dem Ich vor. Das Ich wird aber nur durch Unterscheidung von einem Nicht-Ich hervorgebracht. Mithin muss ein solches zu Unterscheidendes vor-handen sein: und zwar im Ich vorhanden sein. -

Wie und warum im Ich? - Es kann nur durch ein Vermögen des Ich vom Ich unterschie-den werden; mithin muss es Gegenstand dieses unterscheidenden Vermögens sein - also schon in diesem Vermögen liegen. - Eine Qualität, eine prädikative, des Ich. 

Die (schaffende) Einbildungskraft selbst ist Vermögen des Ich. (Könnte sie nicht das ein-zige Grundvermögen des Ich sein? - Nein, darum nicht, weil das Produkt derselben vom Ich unterschieden wird: also auch nach ihrer Funktion noch ein Ich da ist.) Also es muss einen höhern Grund ihres Schaffens im Ich geben. - (Heißt im Grund das gleiche als: Es muss noch etwas übrig bleiben, was Substrat des Ich ist, auf welches das Produkt der Ein-bildungskraft bezogen wird, und das ist offenbar das Fühlende, und im Gefühl liegt mit-hin der Urstoff des [sic], was die Einbildungskraft bildet. 
____________________________________________________________________ 
J. G. Fichte, Von den Pflichten der Gelehrten, Hamburg 1971 [Meiner], S. 126f.; desgl. in Gesamtausgabe II/3, S. 297f.  

 
Nota. - Geist ist toto genere Einbildungskraft. Aber das Ich ist nicht Geist (vom empiri-schen Individuum ganz zu schweigen). Wenn die Einbildungskraft nicht etwas vorfindet, das sie dem Ich einbilden kann, ist sie arbeitslos. Nicht das, was sie vorfindet, bildet die Einbildungskraft, sondern das, was sie vorgefunden hat: das, was es ist, was es bedeutet

Vorgefunden hat sie das krude Sinnesdatum: GefühlDas ist der Stoff, an dem die Einbil-dungskraft arbeitet. Er ist, auch ohne Einbildungskraft; er ist lediglich nicht dieses oder jenes.

*


So apodiktisch wie an dieser Stelle hat es Fichte meines Wissens nie wieder ausgesprochen. Natürlich: Denn es ist ein Ergebnis des Systems, das er doch erst noch auszuarbeiten hatte. Und wenn er es auch je fertig ausgearbeitet hätte: Eine "feste Terminologie" ist der Wissen-schaftslehre fremd, weil sie nicht erlernt, sondern nur selbstgedacht werden kann. Für di-daktische Zusammenfassungen dieser Art gäbe es nach Vollendung der Wissenschaftslehre keinerlei Berechtigung.

Die Stelle kommt in dem öffentliche Vortrag vor, den Fichte im April 1794 noch vor Auf-nahme seiner regulären Vorlesungen in Jena gehalten und sogleich in den Druck gegeben hatte. Zweck dieser öffentlichen Vorträge war, die allgemeine Idee einer Wissenschaftslehre einem weiteren, nicht spezifisch akademischen Publikum nahezubringen. Es ist eine popu-läre Einführung. Er musste den Ergebnissen seiner Untersuchung vorgreifen, wobei die eine oder andere gewagte Formulierung kaum zu vermeiden ist. Es ist ein didaktischer Vortrag, der den Gehalt der Wissenschaftslehre wie einen lernbaren positiven  Stoff vor-trägt und also, nach Geist und Verfahren, durchaus in einem Widerspruch zu ihr steht.

Dass er die obige Stelle in dieser Form in den ausgearbeiteten Darstellungen der Wissen-schaftslehre nicht wieder aufgegriffen hat, hat also philosophischen Sinn. Doch steht sie ganz am Anfang seiner Lehrtätigkeit, und die historisch-philologische Frage, wie Fichte sich die Wissenschaftslehre zu Anbeginn vorgestellt hat, rechtfertigt es, die Stelle dem wissen-schaftlichen Vortrag voran zu stellen.

*

Die pointierte Voranstellung der Einbildungskraft ist das zunächst Bemerkenswerte. Fast möchte man schlussfolgern, die Einbildungskraft sei das eine und ganze Vermögen des Ich! Doch nein, die Hervorbringungen der Einbildungskraft müssen vom Ich doch immerhin so weit unterscheidbar sein, dass das Ich sich als eine "prädikative Qualität" über sie stellen und sie beurteilen kann. In den Ausführungen der Wissenschaftslehre wird sie uns als ab-solutes Wollen wieder begegnen. Der harte Kern des transzendentalen Ich ist seine Fähig-keit zum UrteilUnd sie ist nicht bloßer Geist! Als Urteilskraft = Wollen sind Geist und Sinnlichkeit noch ungeteilt.

Wir verstehen den tieferen Sinn von Fichtes Bezeichnung der Wissenschaftlehre als 'echten durchgeführten Kritizismus'.

22. 7. 18 

Nota II. - Das Ich ist keine Substanz, die da wäre, bevor sie sich setzt und ipso facto sich
als sich-selbst bestimmt. Zuvor war 'es' ein Un bestimmtes; eines, über das sich nichts aus-sagen lässt außer eben: dass es sich bestimmt hat. Das sich-selbst-Bestimmen lässt sich - na ja - anschauen. Nicht anschauen lässt sich, was vorher war. Dass etwas war, lässt sich nur durch Reflexion logisch erschließen. Es lässt sich nichts darüber sagen, als dass es eine "prädikative Qualität" gewesen sein muss (und nicht etwa gehabt haben muss, denn das hieße ihm eine Substanzialität zusprechen vor dem prädizierenden Akt). Prädikative Qualität ist ein Schlüsselwort, das F. nach meiner Kenntnis nie wieder verwendet hat; lei-der.
JE, 10. 1. 20



 Nota - Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und ihre Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Ihre Nachricht auf diesem Blog. JE

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Noumena.*

                                        zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik    Ein Begriff, der uns in die intelli...