Sonntag, 14. August 2022

Systematiker!

                         zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Das letzte große System der Philosophie war das Hegel'sche. Es umfasste alles Denkbare und alles Erfahrbare. Nichts blieb unberührt. Der sang- und klanglose Untergang der Schule ließ daher ebenfalls nichts unversehrt. Zurück blieb nur verbrannte Erde.

In philosophischer Hinsicht. In faktischer Hinsicht war der Weg für die positiven Wis-senschaften so frei wie nie zuvor. Als philosophischer Ersatz diente der flachestmögliche Materialismus, und als nach Jahrzehnten Philosophie sich wieder zu regen wagte, tat sie es mit Friedrich Albert Langes Geschichte des Materialismus: mit der Rückbesinnung auf die Kant'sche Kritik, die alle Metaphysik ein für allemal unmöglich gemacht hatte – je-denfalls, seit Langes Nachfolger die Flause vom Ding an sich auch noch beiseite getan hatten.

Und damit jeden Gedanken an ein philosophisches System: Denn nur metaphysisch war ein System denkbar, das doch alles, was den Sinnen oder der Intelligenz erscheint, auf einen einzigen Grund zurückführen musste. Seither war jeder Gedanke an Systematik in der akademischen Diskussion verpönt, und im außerakademischen Feld beherrschten lebensphilosophische und theosophische Richtungen längst die Szene.

Es wird geklagt, seither habe sich alles rationelle und von einer fachkundigen Öffent-lichkeit begleitete Philosophieren in bodenlose mikrologische Philologie verlaufen, deren Funde man wie in der bildenden Kunst mit Ah! und Oh! bestaunen kann, die in der Sache aber keinen um nur einen Punkt klüger machen. Bücher kann man immer noch schreiben, auch um Lehrstühle wetteifern. Doch wird sich die Öffentlichkeit irgendwann fragen, wo-zu sie sich das leisten soll.

Das gegenwärtige Hallo um die "kontinentale" Philosophie kommt also nicht von Unge-fähr. Naseweise Ungeduld angelsächsischer Pragmatiker, denen das Büffeln lästig ist, ha-ben beim Aufkommen der transatlantischen Gegenströmung sicher eine Rolle gespielt. Aber deren rasanter Erfolg bei den jüngeren 'Kontinentalen' zeigt an, dass die Kritik an ihrem fleißigen Philologismus nicht so unbegründet ist.

Umso unbegreiflicher ist aber, wie bereitwillig sie die improvisierte Alternative überneh-men: "Systematisch" soll fortan gedacht werden. Dass irgendeiner der Protagonisten allen Ernstes daran ginge, aus den analytisch gesäuberten Begriffen ein System zu bauen, ist aber gar nicht abzusehen. Die Verwendung der Vokabel ist gar nicht einem Zweck ge-schuldet, sondern offenbar nur ganz kleinteilig der verwendeten Methode: dass sie näm-lich, was immer durch einen Begriff bezeichnet wird, derselben Behandlung unterziehen - in der Hoffnung wohl, dass man (in einer Zukunft) einmal alle Begriffe lupenrein auf ihren kristallinen Kern reduziert haben wird, um sie fein säuberlich, einen am andern, nach dem Alphabet aufzureihen und als Das Ganze Wissen an eine große Glocke zu hängen.

Das wäre nicht herleitend systematisch, sondern beiordnend kaleidoskopisch, und recht besehen nur lexikalisch, weil nämlich die Vorstellung, aus einer unbegrenzten Zahl von an-sich-selbst bestimmten Bedeutungsatomen nur ein inintelligibles Chaos entstehen kann, aber kein geordnetes Ganzes.

Ihr Verfahren ist pedantisch und mikrologisch wie das der Kontinentalen, aber Funde, die das Publikum zu einem Ah! und Oh! begeistern können, werden ihnen nicht einmal ver-gönnt sein. 

Als Alternativen - wenn nicht diese, dann die andere - erscheinen sie nur, sofern sie den Grundfehler teilen - den Begriffsfetischismus. Aber Begriffe fallen nicht vom Himmel; es gab sie nicht, bevor einer sie gefasst hat. Am Historischen führt kein Weg vorbei.

*

Dabei war nicht nur die Kritik am akademischen Philologismus richtig, sondern im Prinzip  auch der propagierte Gegensatz: systematische Philosophie. Nur entscheidet sich der systematische Charakter nicht erst an den verwendeten Verfahren, sondern schon am verfolgten Ziel. Und da reicht es nicht, dass man es bestimmt, sondern es kommt darauf an, wie man es bestimmt. Nämlich nicht positiv - das war ja der Fehler der Metaphysik -, sondern negativ: indem es nämlich alles ausschließt, was jenseits der Erfahrung liegt - und sich stattdessen konzentriert auf das, was diesseits der Erfahrung liegt. 

Eine kritische Philosophie braucht sich den Umfang ihres Systems nicht auszudenken: Es ist ihr vorgegeben als das zum gegebenen Zeitpunkt tatsächlich vorliegende System der Vernunft. Systematisch einander zugeordnet kann nicht das Mannigfaltige der Erfahrung sein. Das kann lediglich Zwecken zugeordnet, genauer: untergeordnet werden. Das ergibt wenigstens so viele Systeme, wie Zwecke in Anschlag kommen. Ein System kann lediglich aus dem entstehen, was die Mannigfaltigen zusammenfasst; das, was Zwecke setzt, näm-lich diesen besonderen oder jenen andern besonderen, und alle andern auch. Hergeleitet kann das wirkliche System unserer Vernunft nicht aus seinen möglichen mannigfachen Gegenständen, sondern allein aus dem Vermögen, Zwecke zu setzen.

Dies ist, in wenigen Worten, das, wozu J. G. Fichte in der Wissenschaftslehre Kants Ver-nunftkritik ausgebaut hat. Er hat sie selber nicht ganz vollenden können, und so bleibt den Nachgeborenen noch manches Stück Arbeit, das noch manches Ah! und Oh! befeu-ern und auch manchen Kopf um manches klüger machen kann.


Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem BlogJE   

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