Sonntag, 7. August 2022

Not everything goes.

Spitzweg, Der Alchimist 
aus nzz.ch, 06.08.2022,                                                                                                              zuJochen Ebmeiers Realien

Ufologen, Löffelbieger, Kryptozoologen: 
Wo verläuft die Grenze zwischen Wissenschaft und grobem Unfug?
Zwischen Wissenschaft und Nichtwissenschaft gibt es keine klare Grenze. Wissenschafter sollten darum nicht pauschal diskreditieren, was sich an der Peripherie tut. Eine Typologie der Randwissenschaften – von Akupunktur bis Postkolonialismus.


von Eduard Kaeser

Stellen wir uns Wissenschaft als ein Land vor, erscheint sie uns als ein Gebiet mit verschwommenen Rändern. Im Zentrum befinden sich die etablierten Disziplinen, gegen die Peripherie geraten wir in eine nebulöse Grauzone, wo sich Kreationisten, Flacherdler, Ufologen, Löffelbieger, Kryptozoologen, Parapsychologen, Eugeniker, Katastrophisten und Spiritualisten tummeln.

Seit einem Jahrhundert versuchen Wissenschafter und Philosophen, auf der Karte dieses Landes eine klare Grenze zwischen Wissenschaft und Nichtwissenschaft zu ziehen. Der Physikochemiker und Nobelpreisträger Irving Langmuir glaubte in einem Vortrag 1953, zwischen normaler und pathologischer Wissenschaft unterscheiden zu können.

Der Philosoph Karl Popper brachte die Abgrenzung als das «Demarkationsproblem» auf den philosophischen Begriff. Er ersann das bekannte Falsifikationskriterium, mit dem sich die wissenschaftliche Spreu vom Weizen eindeutig trennen lässt.

Aber solche Versuche erweisen sich als grobschlächtig. Sie befassen sich zu wenig mit dem Charakter des Unwissenschaftlichen. Sie disqualifizieren die Theorien der Randzone pauschal als unwissenschaftlich oder pseudowissenschaftlich. Stattdessen ist es angemessener, den Blick auf sie schärfer einzustellen. Das erlaubt dann auch, das Urteil der Pseudowissenschaftlichkeit zu diversifizieren und zu präzisieren.

Ich halte einen Ausdruck des amerikanischen Wissenschaftshistorikers Michael D. Gordin für sehr praktikabel: «fringe sciences», Randwissenschaften. Werfen wir einen Blick auf vier Typen.

Die Wissenschaftsgeschichte ist ein Abfallkübel

Zunächst die Residualwissenschaft. Eine Wissenschaft ist residual, wenn sie überkommene Ansichten weiterhin verficht: etwa Astrologie, Alchemie, Intelligent Design. All diese Theorien waren einmal durchaus akzeptierte und respektierte Instrumente der Welterklärung, teils aus mythologischem, teils aus religiösem Fundus stammend. Sie gelten aber als überholt, weil der wissenschaftliche Konsens sich von den früher vorherrschenden Vorstellungen gelöst und weiterentwickelt hat.

Die Wissenschaftsgeschichte ist deshalb nicht nur eine Geschichte der wissenschaftlichen Siege, sondern auch ein grosser Abfallkübel verfallener Theorien. In ihm befindet sich alles, was die moderne Wissenschaft nach ihrem Selbstverständnis – oder nach ihrem Selbstmissverständnis – «überwunden» hat. Wer Theorien aus diesem Kübel vertritt, sieht sich schnell an den Rand gedrängt. 


Astrologie als historisch-kulturelles Phänomen zu studieren, gilt durchaus als wissenschaftlich, sogar als lehrreich. Denn wir lernen ein Weltbild kennen, in dem die Konstellationen der Himmelskörper nicht blosse Mechanik, sondern ein deutbarer Text waren, aus dem sich unser Schicksal ablesen liesse.

Heute erklärt die Astrophysik die Kausalität der Himmelsdynamik. Und für Himmelsdeutung hat sie nichts übrig. Astrologie zu praktizieren, gilt als Residual- oder Pseudowissenschaft. Leute, die sich mit Themen am Rand befassen, gelten schnell als intellektuell «randständig».

Althergebrachte Praktiken sind nicht überwunden

Natürlich wehren sich Astrologen gegen eine solche Disqualifizierung. Das führt zum zweiten Typus, zur Alternativwissenschaft. Auf vielen Gebieten existieren nach wie vor althergebrachte Vorstellungen, wohl am offensichtlichsten in den Heilpraktiken. Obwohl die moderne «westliche» Medizin ihren enormen Fortschritt den Methoden der Biowissenschaften verdankt, hat sie althergebrachte und «nichtwestliche» Praktiken keineswegs verdrängt oder überwunden.

Es gibt immer das Bestreben von Hardlinern, den medizinischen Diskurs von allen nicht evidenzbasierten Vorstellungen und Verfahren zu «reinigen». Aber dieser Kanon ist, wie sich zeigt, zu ausschliessend.

Im Laufe der letzten Jahrzehnte entwickelte sich zwischen moderner und alternativer Medizin ein aufgeschlossenes Verhältnis. Es stellt nicht auf Konkurrenz ab, sondern auf Komplementarität. Auch deshalb, weil sich die wissenschaftliche Medizin ihres allzu materialistischen Menschenbildes bewusst geworden ist. Man könnte also sagen

Manchmal befindet sich Wissenschaft im Kampfmodus

Anders als die Alternativwissenschaft, die sich mit dem Mainstream arrangiert, gibt sich die Anti-Establishment-Wissenschaft kämpferischer. «Wer sagt uns, wie man den Himmel deuten soll?», «Wer definiert eigentlich, was Wissenschaft ist?», fragt sie keck. Das heisst, ganz im Sinn postmodernen Geistes sieht sie in den hehren Idealen der Wahrheit, Objektivität und Faktizität nur machtvolle «Grosserzählungen», Ausschlussverfahren für das Unerwünschte, Unbequeme, zur Emanzipation Drängende.

Anti-Establishment-Wissenschaft sucht die Machtstrukturen hinter der Erkenntnissuche sichtbar zu machen. Zum Beispiel wehren sich Gender-Studies oder interkulturelle und postkoloniale Studien vor allem dagegen, im Gefüge des universitären Systems eine «vorherbestimmte» Randposition zugewiesen zu erhalten. Dieser «Kampfmodus» hat durchaus zu neuen Forschungsansätzen geführt, aber auch zu schrillen Praktiken wie dem «Cancelling».

Es gibt die ausseruniversitäre Anti-Establishment-Wissenschaft. Ihre Randtheorien sind Ausdruck einer sozialen und kulturellen Substruktur. Sie sind Identitätsstifter, Anziehungspunkte für abweichende, «heterodoxe» Ansichten, Keime libertären Aufbegehrens.

Nicht selten sehen Verfechter von Randtheorien gerade in der «Andersgläubigkeit» die überzeugendste Begründung der Richtigkeit. In ihrer Perspektive ist die orthodoxe Wissenschaft elitär, unterdrückend, korrupt, dekadent. Dagegen muss man die Freiheit des eigenen Weltbildes verteidigen.

Zweifel streuen, um Unübersichtlichkeit zu schaffen

Denialismus versteht sich nicht als Opposition zum Establishment, seine Strategie ist vielmehr das interessengeleitete Zersetzen eines Forschungskonsenses. Und zwar unter dem perfiden Motto «Mehr Forschung ist nötig». Das war die Strategie der Public-Relations-Firma Hill & Knowlton, die 1954 im Auftrag der amerikanischen Zigarettenindustrie politische Interventionen zur Eindämmung des Rauchens aufzuschieben suchte.

Perfide daran war, dass man mit «mehr Forschung» primär nicht Evidenz für oder gegen eine Hypothese suchte, sondern generell Zweifel streute, um den zunehmend robusteren Konsens der Forschung zu unterminieren. «Der Zweifel ist unser Produkt» hiess die Devise. Am sichtbarsten wurde sie in den 1960er Jahren, als die Petroindustrie mit der Evidenz aus eigenen Forschungs­institutionen und Think-Tanks die offizielle Evidenz der Wissenschaft über den Klimawandel konterkarierte

Die Taktik ist subtil. Sie schreibt sich auf die Fahne, am normalen wissenschaftlichen Erkenntnisprozess teilzunehmen, und in diesem Prozess ist keine Meinung definitiv. Aber die Resultate, die Think-Tanks in offiziell anmutendem Fachliteraturformat publizieren, haben oft nicht die fachliche Begutachtung durchlaufen. Die Hauptadressaten – Politiker und Öffentlichkeit – übersehen häufig diesen Unterschied. Diese bewusst geschaffene Unübersichtlichkeit ist ein ideales Biotop für den Denialismus.

Rigidere Standards schaffen keine Abgrenzung

Zu dieser Unübersichtlichkeit trägt besonders die heutige Publikationspraxis bei. Es gibt eine Schwemme an neuen Publikationsorganen. Die Zeitschrift «Nature» brachte 2019 einen kritischen Kommentar zu sogenannten «Räuberzeitschriften» («predatory journals»), welche dubiose Forschungsergebnisse ohne Qualitätsprüfung (dafür mit Publikationsgebühr) veröffentlichen. Sie sind gemäss den Autoren des Kommentars «eine globale Bedrohung».

Der Ruf nach strengeren Publikationsstandards liegt in der Luft. Aber damit schafft man kaum eine Abgrenzung zwischen Wissenschaft und Nichtwissenschaft. Eher noch riskiert die Wissenschaft, sich ins eigene Knie zu schiessen – Stichwort Replikationskrise. Die Klagen über qualitativ minderwertige Forschung häufen sich schon seit einiger Zeit, vor allem seit sich datenintensive Methoden wie statistisches Testen eingebürgert haben.

Aufdecken und Analysieren ist aufwendig

Vom Schriftsteller Ludwig Hohl stammt die Metapher der «hereinbrechenden Ränder». Sie beschreibt meines Erachtens aufs Einprägsamste die gegenwärtige Situation. Die Strömungen von den Rändern mischen sich mit dem Mainstream der Wissenschaften, schlampige Forschung «verunreinigt» ihn, sät Ungewissheit und Verdächte.

Es gehört deshalb mehr denn je zum Forschungsethos, sich von nicht- oder pseudowissenschaftlichen Praktiken abzugrenzen – nicht dadurch, dass man alles über den Leisten eines universellen Kriteriums schlägt, sondern dadurch, dass man von Fall zu Fall die Fehler, Unseriositäten, Widersprüche aufdeckt und analysiert. Das ist aufwendig und zeitraubend, gehört aber zur Aufgabe eines zeitgemässen Forschers – und ist ein dringendes Erfordernis seiner Ausbildung.

Wissenschaft bewahrt ihre prekäre Glaubwürdigkeit im Basar der Welterklärungen nur, wenn sie sich dem Motto «Not anything goes» verschreibt. Und dies offensiv.


Nota. - Man mag es drehen und wenden, wie man will: Gegen den Satz, Wissenschaft sei öffentliches Wissen, hält kein Einwand stand. Leider ist er kein kein Lackmusstreifen, den man in einen Text bloß hineinzutauchen braucht, um Gewissheit zu finden. Was als wissenschaftlich gelten darf, ist in jedem Fall konkret zu überprüfen, da führt kein Weg dran vorbei. Konkret - das heißt in einem Verfahren öffentlicher Kritik, und wann das zufriedenstellend abgeschlossen ist, unterliegt selbst der Diskussion. Mit andern Worten: Es kann dauern. 

Lange können oder mögen die andern Wissenschaftler oft nicht warten, da muss man manches über Knie brechen und da wird manches Unrecht geschehen. Wissenschaft treibt jede auf eigenes Risiko. Und darüber kann sich, wer Wissenschaft betreibt, nicht beschweren; riskant war sie immer,
JE



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