Mittwoch, 17. August 2022

Islamische Philosophie?

                                 zuJochen Ebmeiers Realien
 aus nzz.ch, 17. 8. 2022                             Ibn Sina (hier am Bett eines Kranken) hat der Philosophie im 11. Jahrhundert neue Impulse gegeben; die Auseinandersetzung mit seinen Thesen prägte jahrhundertelang den philosophischen Unterricht (persische Miniatur, 1431).

Zürich wird zum Zentrum für die Philosophie in der islamischen Welt

Lange ging die Forschung davon aus, dass die Philosophie um 1200 aus der arabischen Welt verschwunden sei. Ein grosses Editionsprojekt belegt das Gegenteil: Die erste Gesamtdarstellung der Philosophie im arabischen, persi-schen und türkischen Sprachraum ist ein Meilenstein für die Islamwissenschaft.


von Philipp Hufschmid

Die Anfänge vor 22 Jahren waren unspektakulär: Der in Zürich lehrende Islamwissen-schafter Ulrich Rudolph wurde vom Basler Schwabe-Verlag gebeten, einen 400-seitigen Beitrag über die Philosophie im arabischen Raum vom 8. bis zum 12. Jahrhundert zu verfassen. Daraus ist ein inhaltlich viel breiter gefasstes Mammutprojekt geworden: Bis zum voraussichtlichen Abschluss im Jahr 2028 wird eine dreistellige Anzahl von Islam-wissenschaftern über 4000 Seiten dazu beigesteuert haben, vier Bände werden die Philosophie in der islamischen Welt von den Anfängen bis zur Gegenwart beleuchten.

Das ist ein Novum, denn lange hatte sich die Forschung ganz auf die Epoche zwischen dem 8. und dem 12. Jahrhundert konzentriert. Nach 1200, so meinte man, hätten die Reconquista und eine philosophiefeindliche Stimmung der Philosophie in der arabischen Welt den Todesstoss versetzt. Für die erste umfassende Darstellung der islamischen Philosophie galt es daher, Neuland zu betreten, Quellentexte zu edieren und das Forschungsgebiet systematisch zu erschliessen.

Schon 2012 ist der erste Band der Reihe «Philosophie in der islamischen Welt» erschienen (als Teil des Handbuchs «Grundriss der Geschichte der Philosophie», das der deutsche Philosoph Friedrich Ueberweg im 19. Jahrhundert begründet hat). Er behandelt den Zeitraum vom 8. bis zum 10. Jahrhundert. Wie alle Bücher der Reihe berücksichtigt er auch weniger bekannte Philosophen. Zudem wird jeder Philosoph nicht nur anhand von Biografie, Lehre und Wirkung präsentiert. Auch jedes seiner Werke wird kurz beschrieben. Im Fall von bedeutenden Gelehrten wie al-Farabi (gest. 950) oder al-Kindi (gest. nach 861), der als «der erste arabische Universalist hellenistischer Bildung» bezeichnet wird, sind das statt der bekanntesten fünf je über sechzig Schriften.

Zehn Jahre nach Band 1 sind unlängst drei weitere Halbbände erschienen. Dazu gehört der erste Teil von Band 2, in dem es um die Philosophie im 11. und 12. Jahrhundert in den zentralen und östlichen Gebieten der islamischen Welt geht. Damals hat sich die Philosophie laut Ulrich Rudolph, dem Herausgeber des Bandes, vom antiken Erbe gelöst und einen tiefgreifenden Wandel erlebt.

So sei die aus der Spätantike übernommene und noch im 10. Jahrhundert gültige Wissensordnung schrittweise verändert und in eine neue, «islamische» Ordnung überführt worden, die ab 1200 den Rahmen für den philosophischen Diskurs gebildet habe. Impulsgeber für diesen Paradigmenwechsel war der aus dem heutigen Usbekistan stammende Arzt, Naturwissenschafter und Philosoph Ibn Sina (latinisiert Avicenna, gest. 1037), der die Lehre von Aristoteles mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und der islamischen Theologie in Einklang bringen wollte. Die Auseinandersetzung mit Ibn Sinas Thesen prägte jahrhundertelang den philosophischen Unterricht.

Berühmt ist aus dieser Zeit eine Schrift, die gemeinhin für das Ende der arabischen Philosophie verantwortlich gemacht wird: Im 11. Jahrhundert hat der aus Nordostiran stammende islamische Theologe al-Ghazali (gest. 1111) «Die Inkohärenz der Philosophen» verfasst. Doch Rudolph betont, dass al-Ghazali der Philosophie nicht völlig ablehnend gegenübergestanden sei; teilweise habe der Theologe philosophische Konzepte und Methoden übernommen, und seiner Initiative sei es zu verdanken, dass die Logik in der Madrasa zusammen mit den islamischen Wissenschaften gelehrt worden sei. Insofern habe al-Ghazali die Auseinandersetzung mit der Philosophie in der islamischen Welt nicht beendet, sondern vielmehr herausgefordert, hält Rudolph fest.

In Anlehnung an Reinhart Koselleck bezeichnet Rudolph das 11. und 12. Jahrhundert als «frühe Sattelzeit», weil es damals in der Philosophie in der islamischen Welt zu einem vergleichbar tiefgreifenden konzeptuellen und sprachlichen Wandel gekommen sei, wie ihn der deutsche Historiker Koselleck für den deutschen Sprachraum zwischen 1750 und 1850 festgestellt habe.

Ebenfalls kürzlich erschienen ist Band 4, in zwei Teilen, die das 19. und 20. Jahrhundert behandeln. Prägend für diese Zeit ist die starke Rezeption westlicher Philosophie. An der Wende zum 19. Jahrhundert kam es, zunächst in Ägypten, zu Bildungsreformen. Die Herausgeberin Anke von Kügelgen, die bis 2021 an der Universität Bern lehrte, stellt in der Einleitung klar, dass der Anstoss dazu nicht wie häufig behauptet von den 1798 mit Napoleon ins Land gekommenen französischen Besatzern ausging, sondern vom osmanischen Gouverneur Muhammad Ali (gest. 1849).

Ein intensiver Austausch

An Spezialschulen liess Muhammad Ali die Militärelite von italienischen oder französischen Fachleuten unterrichten. Mehr und mehr setzte sich daraufhin in der arabischen Welt die Einsicht durch, dass die modernen Wissenschaften, aber auch die Philosophie die westliche Vormachtstellung beförderten, weshalb die Beschäftigung mit diesen Fächern verstärkt werden sollte

Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden zahlreiche philosophische Werke der europäischen Moderne ins Türkische oder Arabische übersetzt. Der Austausch intensivierte sich in der Folge auch dank den aufkommenden Printmedien und modernen Bildungseinrichtungen. So erschienen beispielsweise in der Zeitschrift «Das Ausgewählte» («al-Muktataf») ab 1876 Beiträge zu Themen wie Evolutionstheorie, Wissenschaft und Religion, Säkularisierung oder Frauenrechte. Zwischen 1860 und 1940 seien europäische Lehnwörter und sprachliche Neuschöpfungen in zuvor ungekanntem Ausmass in Umlauf gekommen, schreibt von Kügelgen in der Einleitung, weshalb auch dieser Zeitraum als «arabische Sattelzeit» zu verstehen sei.

Philosophisches Gedankengut kursierte auch in arabischen Freimaurerlogen etwa in Ägypten. Einer solchen gehörten auch die Wegbereiter der islamischen Moderne Jamaladdin al-Afghani (gest. 1897) und Muhammad Abduh (gest. 1905) an, die den Islam als Vernunftreligion verstanden, die mit den modernen Wissenschaften vereinbar sei. Christliche Autoren hielten eine Trennung von Religion und Wissenschaft dagegen für unerlässlich.

Die Jahre von 1920 bis 1960 waren geprägt von der Auflösung des Osmanischen Reiches (1923) und der Entstehung der arabischen Nationalstaaten. Die politische Philosophie wurde wichtiger. Verschiedene Spielarten des Liberalismus, Marxismus und Säkularismus wurden an die Bedürfnisse einer durch religiöse Bekenntnisse und Traditionen geprägten Gesellschaft angepasst. So wurden etwa John Locke und John Stuart Mill von Taha Husain (gest. 1973) und Ali Abdarrazik (gest. 1966) in eine aussereuropäische Sichtweise eingebettet.

Ab den 1960er Jahren setzte in vielen arabischen Ländern ein Ausbau der Philosophieabteilungen ein. 2019 ist das Fach Philosophie sogar in Saudiarabien zugelassen und an Gymnasien eingeführt worden.

Während der zweite Teil von Band 2 (11. und 12. Jahrhundert: westliche Gebiete) voraussichtlich im nächsten Jahr erscheint, ist Band 3 zum Zeitraum zwischen dem 13. und dem 18. Jahrhundert noch im Planungsstadium: Diese Epoche, zu der es kaum Vorarbeiten gibt, ist die grösste Herausforderung für die beteiligten Forscherinnen und Forscher. Ulrich Rudolph hat sich für diesen letzten Band vorgenommen, das Augenmerk stärker auf die politische Philosophie zu legen. Denn es habe in der islamischen Welt immer einen politischen Diskurs gegeben, doch sei dessen Zeugnissen möglicherweise zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden.

Der Islamwissenschafter, der 1999 als Professor an die Universität Zürich berufen und kürzlich emeritiert wurde, hofft, dass die vier Bände dazu beitragen, jungen Muslimen im Westen die Vielfalt der islamischen Kultur jenseits islamistischer Manifeste aufzuzeigen und ihnen einen Zugang zur zeitgenössischen Philosophie in der islamischen Welt zu eröffnen. Er plädiert auch dafür, hiesige Schulfächer wie Religion und Kultur zu öffnen und vermehrt philosophische Texte etwa aus dem Bereich der Ethik von Autoren aus anderen Weltregionen zu behandeln.

Auch wenn Band 3 noch nicht vorliegt, ist bereits jetzt gewiss, dass die Reihe «Philosophie in der islamischen Welt» weit mehr leistet als ein «normales» wissenschaftliches Handbuch: Die Grundlagenarbeit macht die Bände zu unentbehrlichen Standardwerken. Ein Beleg für die grosse Bedeutung des Projekts für die Islamwissenschaft ist auch, dass alle Bände nach der Publikation umgehend auf Englisch übersetzt werden. Verhandlungen für eine arabische und eine persische Übersetzung sind im Gang. Kein Zweifel: Mit diesen vier Bänden ist Zürich mit seinen Kooperationspartnern in Bern und anderswo zu einem Zentrum der Philosophie in der islamischen Welt geworden.


Ulrich Rudolph (Hg.), unter Mitarbeit von Renate Würsch. Philosophie in der islamischen Welt 1. 8.–10. Jahrhundert. Schwabe-Verlag, Basel 2012. 648 S., Fr. 200.–..
Ulrich Rudolph (Hg.), unter Mitarbeit von Renate Würsch. Philosophie in der islamischen Welt 2/1. 11. und 12. Jahrhundert: Zentrale und östliche Gebiete. Schwabe-Verlag, Basel 2021. 600 S., Fr. 200.
Anke von Kügelgen (Hg.). Philosophie in der islamischen Welt 4/1. 19. und 20. Jahrhundert: Arabischer Sprachraum. Schwabe-Verlag, Basel 2021. 658 S., Fr. 230.–
Anke von Kügelgen (Hg.). Philosophie in der islamischen Welt 4/2. 19. und 20. Jahrhundert: Türkei, Iran und Südasien. Schwabe-Verlag, Basel 2021. 880 S., Fr. 290.–.


Nota. - Wie man es dreht und wendet - nicht der stürmische Aufschwnng der arabischen Kultur, sondern deren lautloses plötzliches Ende im 11.-12. Jahrhundert ist eins der großen Rätsel de Geschichte. Mit dem Ende der Pax romana und dem Siegeszug des Christentums war die Antike untergegangen, zentrifugale Kräfte zersplitterten den mittelmeerisch-levantinischen Kulturraum, da konnte der Islam als Stifter einer neuen Identität erscheinen. Nicht nur die arabische Schrift, selbst die arabische Sprache ist durch den Koran erst geschaffen worden, arabisch und islamisch war fast gleichbedeutend, in allen bekehrten Landstrichen konnten die einheimischen Eliten in dem neuen Reich aufgehen, das im wesentlichen ein einziges großes Heerlager war.

Nicht nur die Eliten selbst, sondern alles, was sie mitzubringen hatten, konnte, von alten Rivalitäten befreit, in dieser vielfältigen Einheit zu einer neuen Blüte kommen. Ein enormer materieller Fortschritt: die Erfindung des Papiers, hat nicht nur die rasante Verbreitung des Korans ermöglicht, sondern zu einer Verschriftlichung des Denkens beigetragen, für die Europa noch lange nicht reif war. 

Und doch hat auch der Westen von diesem Aufschwung profitiert. Vieles der griechischen Philosophie wäre im originalen Wortlaut heute verloren, wären sie nicht im Nahen Osten von islamischen Gelehrten kopiert worden. Im Westen fand man Genügen an den lateinischen Kirchenvätern und an Plotin, der gleich nach seinem Tod lateinisch übersetzt wurde und als der authentische Interpret Platos galt - den man folglich nicht zu lesen brauchte: Das Interesse der Schriftkundigen galt der Theologie - die antike Philosophie wurde auf Arabisch überliefert.

Bizarrerweise auch dem Westen. Die Erste Aufklärung durch Scholastik und Nominalismus geschah als eine Wiederentdeckung des Plato-Rivalen Aristoteles, dessen Originaltexte ebenso wenig bekannt waren wie die Platos. Aber auch keine Übersetzung: So wie Plato in der Darstellung Plotins gelesen wurde, wurde Aristoteles in den Kommentaren des cordobeser Gelehrten und Staatsmanns Ibn Ruschd, lat. Averroes aufgenommen - die aus dem Arabischen ins Latein übertragen waren. 

Vater einer Aufklärung konnte Averroes allerdings nur in Europa werden. Zuhaus war er kurz vor seinem Tode in Ungnade gefallen und seine Schriften wurden verbrannt. Dort wie im Nahen Osten hatte der Sieg der islamischen Dogmatik der Philosophie ein Ende  bereitet. Der innovative Impuls war versandet, ehe die Kreuzzüge und die mongolische Invasion in den Nahen Osten einbrachen.

Das sei eine sehr herkömmliche und dringend der Überholung bedürftige Auffassung? Um mich aber davon zu überzeugen, genügt obige Rezension nicht. Die 4000 Seiten von Ulrich Rudolph und Renate Würsch reichen aber nur bis ins 12. Jahrhundert. Auf die kritische Folgezeit muss man wohl noch lange warten.
JE


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