Dienstag, 23. August 2022

Ein pragmatisches System.

 

Der gesunde Menschenverstand ist die pragmatische Gebrauchsform der Vernunft. Sie ist überall an ihrem Platz, wo es um Fragen geht, die aus der Erfahrung zu beantworten sind. Im täglichen Leben geht es um Ungefähres, und die Erfahrungen, die es haben kann, sind ebenso ungefähr. Darum werden im Alltag Fragen gar nicht gelöst, sondern konsensuell unschädlich gemacht; das reicht in den meisten Fällen, äußersten Falls versucht man es noch mal.

Um in Genua oder sonstwo eine Brücke zu bauen, reicht kein Ungefähr. Technische Fra-gen müssen gelöst werden. Dafür haben wir die Wissenschaft. Die nimmt es, anders als der Alltagsverstand, ganz genau. Darum ist ihr grundlegendes Verfahren das Experiment - was sie vor Irrtümern nicht schützt: Tatsachen können auch mal übersehen werden. Doch grundsätzlich steht auch die exakteste Wissenschaft im Modus des gesunden Men-schenverstands. Das hindert sie nicht am abstrakten Theoretisieren. Wo praktische Ver-suche nicht machbar sind wie im gesellschafts- wissenschaftlichen Bereich, entwirft sie Modelle, wo begriffliche Extrapolationen die empirischen Daten ersetzen müssen, und denkt sich an und mit ihnen das Faktische, das ihr unmittelbar nicht zugänglich ist. So aber auch in der Theoretischen Physik. Was in der Wirklichkeit nicht anschau- und folg-lich nicht messbar ist, wird zusammen mit bekannten reellen Daten in eine mathematische Formel gebracht, mit der sich rechnen lässt. Die so neu gewonnenen Daten lassen sich wenn nicht direkt, dann mittelbar experimentell überprüfen - und sei es nur, dass das Mo-dell den Rechnungen standhält. So ist es mög-lich, dass wir uns Dinge denken, die wir uns doch nicht vorstellen können.

Denn unterste Grundlage bleiben ja die experimentell gesicherten reellen Daten.

Die grundsätzlichen Fragen der Menschheit - Wie sollen wir unsere Welt einrichten? - sind nicht experimentell zu klären. Da reicht es nicht, zu erproben, wie was funktioniert; es kommt darauf an, Zwecke zu setzen. Modellrechnungen mögen erst recht notwendig werden, und die konkreten Daten, die in sie eingehen, müssen erst recht gesichert sein. Das bleibt Sache der realen Wissenschaft und ihres gesunden Menschenverstands. Aber die Frage, welches Modell man will und welche Gefahren man zugunsten welcher Mög-lichkeiten einzugehen bereit ist, ist eine Frage der Vernunft im strengen Sinn. Da gilt kein Ungefähr und kein Konsens, das wird man entscheiden müssen.

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Muss sich aber die Vernunft rechtfertigen - etwa um ihrer selbst willen?

Dazu ist sie gar nicht da. Mich soll sie rechtfertigen, dafür habe ich sie zur Welt gebracht.
3. 3. 19



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Bestimmt, unbestimmt, bestimmbar; setzen, abstrahieren.

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