Dienstag, 30. August 2022

Nackte Mannsbilder in Bremen.

das tigerschiff (portfolio of 10 w/justif. for bk by hans siemens) by renée sintenis aus FAZ.NET, 30. 8. 2022                  Renée Sintenis, Zwei nackte Knaben aus Das Tigerschiff              zu Geschmackssachen

AUSSTELLUNG ZUM MÄNNLICHEN AKT
Die nackte Wahrheit war griechisch
Die Kunsthalle Bremen zeigt in „Manns-Bilder“, warum der maskuline Akt genauso wichtig war wie der weibliche.

von Stefan Trinks

Die nackte „Judith“ von Jan van Hemessen hat etwas Irritierendes, wie sie da in der von Christine Demele kuratierten Ausstellung „Manns-Bilder. Der männliche Akt auf Papier“ der Bremer Kunsthalle entschlossen ins Bildinnere stapft. Auf dem Kupferstich von 1535 zeichnet sich die durchtrainierte Renaissance-Heldin wie die Schauspielerin Jella Haase als Stasiagentin Kleo in einer aktuellen Filmserie durch breite Schultern, wohlmodellierte Oberarme und pralle Waden aus.

Der eher männlich wirkende Körper in den vertrauten Umrissen einer Frau ist tatsächlich einer: In Dürers und Hemessens sechzehntem Jahrhundert gab es noch kaum weibliche Modelle, es sei denn, der Künstler nahm die eigene Ehefrau oder eine Magd zu Hilfe. In den meisten Fällen musste pragmatisch ein Werkstattgehilfe Modell stehen oder eben die künstlerische Imagination ausreichen, die eine römische antike Statue kurzerhand per Skizze oder eidetischem Bildgedächtnis in die gewünschte Form brachte.

. Antikischer Denker: In Louis de Boullognes Kreidezeichnung „Sitzender männlicher Akt“ aus dem Jahr 1713 ist die römische Skulptur des „Barberinischen Faun“ mit ihren gespreizten Beinen noch sehr präsent.

Licht und Schatten auf dem Körper von Hellas bis Rembrandt

Da aber die römischen Statuen nahezu durchgängig Kopien nach griechischen Originalen sind, erinnert die Ausstellung an einen oft vergessenen Grundbestand der Kunst: Bis zum Bruch mit dem „griechischen“ Menschenbild durch seinen Missbrauch in totalitären Systemen war der hellenische Körper die perfekte Einheit aus ernsthaftem Studium der Anatomie und Feier der Schönheit. Der gräzisierende Akt war die Basis beinahe jeder Darstellung von Menschen, sei es in Barock, Klassizismus, dem ungezügelte Erfolge feiernden Nudismus im Jugendstil um 1900 oder den scheinbar so entge­gengesetzten Expressionismen und Neoklassizismen der Zehner- und Zwanzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts.
Wenig bis gar nicht idealisiert, trotz Ehrentuchs hinter dem Nackten: Rembrandts Radierung „Männlicher Akt vor einem Vorhang sitzend“, 1646.

Es ist aber beileibe nicht nur der makellos schöne und dadurch oft auch langweilige Körper, der von den Künstlern verewigt wurde; gerade die griechische Skulptur legte enormen Wert auf Schultern, Knie und Füße, weit weniger auf primäre Geschlechtsmerkmale der Männerakte, die in der griechisch-römischen An­tike ohnehin größenmäßig unterdurchschnittlich gezeigt wurden. Wohldurchgeformte Körperlandschaften im Bereich der Schultern, der Kniezone um die Patella oder eben der Waden und Füße erlaubten den Künstlern, das Spiel des Lichts auf den zahlreichen Höhen und Tiefen dieser Körperlandschaften tanzen und den Marmorstein leicht werden zu lassen.

Auch wenn das Auftaktblatt der Ausstellung, Hendrick Goltzius’ „Großer Herkules“ von 1589, wegen seiner ungezählten über den gesamten Körper verstreuten Knubbel schon in seiner Zeit als „Knollenmann“ bespöttelt wurde, weil er wie die aus rundlichem Gemüse und Kartoffelknollen zusammengesetzten Figuren Arcimboldos wirkte, bleibt auch in diesem Extrembeispiel eines erkennbar: Selbst im überzeichnetsten Manierismus äußert sich noch diese „griechische“ Freude am Lichtspiel auf den Körpererhöhungen. Und wenn die Schau listig immer wieder Brechungen des Ideals etwa in der japanischen Grafik von Katsushika Hokusai aus dem achtzehnten Jahrhundert in seinem nicht geschönten „Selbstporträt als alter Mann“ oder japanische Holzschnitte der unförmigen Sumoringer-Fleischberge oder auch Rembrandts faszinierende Radierung eines keineswegs sonderlich idealisierten „Auf dem Boden sitzenden Nackten“ oder eines „Akts vor Vorhang“ (beide aus dem Jahr 1646) oder mit 
Max Beckmanns aquarellierter Lithographie „Schlafender Athlet“ (aus der Folge „Day and Dream“) von 1946 gar ein embryonal zusammengekrümmtes und verletztes muskulöses Mannsbild - Baselitz´ beschädigte Heroen lange vorwegnehmend - einschmuggelt, bestätigen die Ausnahmen hier die Regel: Die Markanz und der Blick fürs Detail des männlichen Akts schlagen auch in Altersdarstellungen die makellos reine Schönheit.

Denn erkennbar ist im Bremer Kapitel „Götter und Heroen“ die gezeigte Nacktheit in Marcantonio Raimondis makellosem „Apollo und Admet“ von 1506 oder in Gian Domenico Tiepolos schon fast gruselig schönem, weil nicht alterndem Dorian-Gray-„Bacchus“ eine heroisch ideale, wie der Archäologe Nikolaus Himmelmann das in seinem Opus magnum gültig fasste. Für Jusepe de Riberas derangierten „Trunkenen Selen“ gilt das dagegen nicht, obwohl er ebenfalls eine Gottheit darstellt, aber eben gebrochen.

Ein Christkind wie der junge Jupiter

Dass aber Künstler auch und gerade im Mittelalter für christliche Darstellungen des Lebens und Leidens Jesu die pralle Nacktheit und Körperlichkeit der Antike verwendeten, daran muss immer wieder von Neuem erinnert werden. Wie auf Albrecht Dürers Bremer Pinselzeichnung „Der thronende Christusknabe“ von 1506 (leider seit 1945 in die Moskauer „Baldin-Sammlung“ verschleppt) der kleine Erlöser mit Babyspeck breitbeinig thronend sein Geschlecht wie ein junger Jupiter offenbart oder in dem ebenfalls als Kriegsverlust zu beklagenden, von Dürer beeinflussten und wahrhaft meisterhaften „Christus am Kreuz“ aus der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts der Gekreuzigte vollständig nackt ohne Lendentuch am Marterholz zu sehen ist.

Wenig Leiden, viel Schönheit: Albrecht Dürers Kupferstich „Heiliger Sebastian am Baume“ von 1501.

Oder wie etwa der Märtyrer Sebastian, halb oder gänzlich nackt an einen Baum gebunden, im Mittelalter zum verehrten Schutzherrn der Homosexuellen werden konnte, ist angesichts von Dürers beiden Bremer Kupferstichen, die den Heiligen einmal 1499 an einer Säule und 1501 an einem Stamm fixiert seine körperlichen Vorzüge zeigen lassen, unmittelbar eingängig. Eine Entdeckung ist die Grafik Jacob Bincks aus der Dürerzeit, von der Bremen viel und Gutes zeigt, was der Kupferstecher nach Raimondis Kopien von Michelangelos Sixtinischem Fresko in Rom in nordalpine Gefilde brachte. Etwa die biblische Erzählung der „Trunkenheit Noahs“, bei der der Stammvater und Erfinder des Weinbaus stockbetrunken und unbekleidet daliegend seinen Körper präsentiert, während seine drei Söhne Sem, Ham und Japhet unterschiedlich mit dieser Nacktheit umgehen.

Und der Gevatter schiebt ihn voran: Sebald Behams Kupferstich „Der Tod und das unzüchtige Paar“ von 1529.

Dass darüber hinaus für Aktdarstellungen schon seit jeher die Wahrheit „sex sells“ zutrifft, ist keine originelle oder gar neue Einsicht. Lucas Cranachs Bildtafeln der nackten Stammeltern Adam und Eva, von Judith oder Lucretia hingen auch nicht offen in den Stuben ihrer Renaissancesammler, sondern waren Schlafzimmerbilder für den privaten Genuss. Das war wohl auch besser so, zeigt doch etwa einer der drei sogenannten „Gottlosen Maler von Nürnberg“, Sebald Beham (von dem die Kunsthalle besonders viel besitzt), in seiner Umsetzung des Bibelstoffes „Joseph und Potiphars Weib“ von 1526 den alttestamentlichen Joseph mit erigiertem Glied, stellt so durch die Erektion die christliche Behauptung seiner Unschuld gegenüber der ihn in der Bibel verführenden Frau des Pharaos infrage. Bei anderen „Häresien“ bedient sich Beham ebenso geschickt wie durchschaubar seiner Kenntnis der Antike, wenn er unter das sich fast schon pornographisch stimulierende Adam-und-Eva-hafte Duo mit dem Schnitter im Hintergrund in „Der Tod und das unzüchtige Paar“ von 1529 die Inschrift setzt „Horaz: Mors ultima linea rerum“, „Der Tod ist die ultimative Grenzlinie aller Dinge“.
Die Spannungslinien der Schau liegen somit in ihrer Ausweitung der Kampfzone: Auf erwartbare Bilder des männlichen Akts folgen immer solche, die das scheinbar hinlänglich gekannte um überraschende Aspekte bereichern. Von Renée Sintenis, der Schöpferin des Berliner Bären, stammt die hauchfeine Zeichnung „Zwei nackte Knaben“ (als Illustration zu Hans Siemsens „Das Tigerschiff“ von 1923), die man intuitiv wohl einem Mann zuschreiben würde. Paula Modersohn-Beckers zwei „Stehende männliche Akte“ sind offiziell die ersten, die in Deutschland von einer Künstlerin gefertigt wurden. Und Hans von Marées erstaunlichem, weil für 1873 sehr abstrakten Entwurf „Idylle II“ für ein Fresko in Neapel wird man mit seiner sprühenden Freude an der Darstellung nackter Figuren beiderlei Geschlechts erst dann wirklich gerecht, wenn man es mit der daneben gezeigten Studie von Cézannes „Badenden“ als einem der Gründungsbilder der Moderne vergleicht, die allerdings zweiundzwanzig Jahre später datiert. Derartige Weitungen des Blicks machen die Bremer Ausstellung zu einer der wichtigen dieses Jahres.


Manns-Bilder. Der männliche Akt auf Papier. In der Kunsthalle Bremen; bis zum 6. November. Der Katalog kostet 12 Euro

Nota. - Das ist originell, bei der griechischen Plastik den Akzent auf die dezenten Schattierungen auf dem nackten Körper zu legen. Die werden am Muskelspiel sichtbar, und das naturgemäß eher auf dem männlichen als auf dem weiblichen Körper. Dass sie in Bremen die Kunstgeschichte unter diesem Gesichtspunkt noch einmal neu darstellen, hat schon seinen Reiz.

Es ist aber eine optische Täuschung. Sie beruht auf der jahrhundertealten Legende von der Weißen Antike. Aber man weiß inzwischen - wusste es eigentlich schon länger, wollte es aber nicht wahrhaben -, dass die griechischen Skulpturen erst nach Jahrhunderte weiß geworden sind, am Ursprung aber - selbst die Bronzen - knallbunt angemalt waren wie amazonische Papageien. Da dürfte von subtilem Lichteffekt nicht viel zu sehen gewesen sein.

Dass die Bremer Kunsthalle aber um eines originellen Effekts willen eine der bedeutendsten kunsthistorischen Erkenntnis der letzten Jahrzehnte zu unterlaufen sucht, ist 
unseriös. Und für die Erklärung der griechischen Vorliebe fürs nackte Männerfleisch muss man sich was bessere einfallen lassen. Ohne Erotik wird wohl nichts. 
JE

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