Sonntag, 21. August 2022

Die Wissenschaftslehre erzählt nicht, wie das Bewusstsein entsteht, sondern entwirft einen Kanon der Vernünftigkeit.

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Die Wissenschaftslehre beschreibt nicht, wie ein Mensch tatsächlich zu Bewusstsein kommt, sondern postuliert, welche Weise des bewusst-Seins als vernünftig gelten soll. Die Vorstellungswelt des Wahnsinnigen ist, welche Beiwörter man ihm sonst wohl anheften mag, auch ein Bewusstsein. Die Wissenschaftslehre entwirft nun ein Schema, und wenn einer so handelt, dass es im Sinne dieses Schemas gedeutet werden kann, soll es vernünf-tig heißen.

Diese Postulat ist jedoch nicht aus freier Laune erwachsen. Es ist gewissermaßen 'aufge-funden'. Denn die Untersuchung nahm ihren Ausgang an einem, das wirklich ist: 'Es gibt' in der bürgerlichen Gesellschaft ein Normalbewusstsein, das sich selbst als vernünftig auffasst. Dieses wird analytisch (phänomenologisch) auf seine Voraussetzungen geprüft. Die aufgefundene Erste Voraussetzung, ohne die alles Weitere grundlos wäre, ist das Ich, das 'sich setzt, indem es sich ein(em) Nichtich entgegensetzt'.

Ob dieser Gründungsakt wissentlich geschah oder nicht, spielt keine Rolle, denn 'mit Be-wusstsein' konnte er doch wohl nicht geschehen, da er dem Bewusstsein ja zu Grunde liegen soll – sofern es vernünftig wurde. 

In der Philosophie kommen Fakten nicht vor, sagt Fichte. Das Schema stellt, was gesche-hen soll, nicht als historischen Vorgang, sondern als System dar: Doch im System ist die Zeit untergegangen. Das System kann man nur zeitlos, ideal, 'logisch' darstellen. Das Sys-tem ist 'auf einmal und mit einem Schlag' da.

"Aber das, was nicht im Gebiete der Erfahrung liegt, hat keine Wirklichkeit im eigentli-chen Sinn, es darf nicht in Raum und Zeit betrachtet werden, es muss betrachtet werden als etwas notwendig Denkbares, als etwas Ideales."*


Seine Rekonstruktion kann nicht historisch geschehen, sondern nur genetisch. Auch nicht logisch im Sinne von diskursiv: Da müsste auch ein Schritt auf den anderen folgen, und die Schritte sind im diskursiven Verfahren als Begriffe vorgegeben – deren Entstehen soll aber erst erklärt werden. Auf Begriffe muss also noch verzichtet werden, man muss dem Vorstellen selbst zuschauen. Aber eben nicht im (historischen) Individuum, sondern im zeitlosen Modell.

Wann und wo sollte es in der Geschichte denn passiert sein, dass ein 'Ich sich selbst setzt, indem es sich ein(em) Nichtich entgegensetzt'? In der Geschichte nie, aber heute jederzeit immer und immer wieder. Es ist ein Erklärungsgrund und kein reell (nach Raum und Zeit) identifizierbares Ereignis. Wenn es aber nicht als wirklich stattgefunden vorausge-setzt würde, ließe sich das Wissen (Vorstellung, Bewusstsein, Denken, Begriff...) nicht er-klären. Alles, was historisch (empirisch) geschehen ist, muss im zeitlosen System irgendwo wieder vorkommen, wenigstens als Funktion – freilich nicht am selben Ort** und nicht unterm selben Namen. Und umgekehrt: Phantasiegebilde, denen in Raum und Zeit gar nichts entspricht, gehören nicht in die Transzendentalphilosophie.

*

Indem sie also einen Kanon der Vernünftigkeit aufstellt, definiert sie zugleich die Welt als das Feld ihrer Geltung: Sie ist keine begrenzte Gegend, sondern ein Horizont, der so weit reicht, wie die mögliche Wirksamkeit vernünftiger Wesen. Das ist nicht 'überall, wo Men-schen sind'. Denn da, wo Vernünftigkeit nicht hin reicht, ist nicht mehr Welt, jedenfalls nicht unsere Welt, in der wir als Vernünftige zusammen wirken; sondern immer nur je 'meine' Welt, wo Menschen wohl auch sind, aber wo die Vernunft nichts mehr zu sagen hat.

*) WL nova methodo, S. 23

**) Orte gibt es im System so wenig wie die Zeit. Sie erscheinen erst in der diskursiven Dar-stellung, die die Vorstellungen nach einander ordnet, weil sie sie durch einander nicht veran-schaulichen kann.


10. Januar 2016




Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE 

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