Mittwoch, 17. August 2022

Fragmentarisches System.

Keplers Systeml                                                            zu Philosophierungen                                              
Je systematischer das Denken ist, umso weniger eignet es sich zu systematischer Darstel-lung.

Das ist nur scheinbar paradoxal. Denn System bedeutet in der Vorstellung etwas anderes als in der Mitteilung. Im Denken ist das System auf einmal und ganz gegeben. Es ist syn-chron, ein jeder Satz im System bedingt jeden anderen Satz. Es ist weniger gleich-zeitig als – jenseits von Zeit und Raum – gleich-gültig. Eigent-lich nicht synchron, sondern achro-nisch. Mitteilung geschieht dagegen in der Zeit, diachron, eins nach dem andern.


Man müsste das gedachte System – das hat schon Fichte bemerkt – von jedem beliebigen einzelnen Satz aus rekonstruieren und von da aus zu jedem andern Satz im System gelan-gen. Die Mitteilung muss dagegen ein Anfang wählen, einen Ober-Satz: principium. Dar-aus müssen die Folgesätze nach den Regeln der diskursiven Rede her-geleitet werden. Im dargestellten System gelten die Sätze nicht a-chronisch und gleichsondern sind hierar-chisch geordnet.

Im gedachten System erscheint ein jeder Satz der nachträglichen Reflexion wie eine Figur vor ihrem Hintergrund. Im dargestellten System erscheint jeder Satz als logischer Schluss aus dem Vorangehenden und Grund für alles Folgende. Das dargestellte System müsste, um vollständig zu sein, dieselbe Operation von jedem denkbaren (Ober-)Satz zu jedem denkbaren (Folge-)Satz wiederholen und synop-tisch zu einander stellen. Da die Anzahl der denkbaren Sätze aller Voraussicht nach unendlich ist, wird die Aufgabe... unendlich sein. Mit andern Worten, als ein Ganzes würde sich das System auf diesem Wege niemals darstellen lassen.

Nun könnte man auf die Idee kommen, die Ganze Gestalt des Systems so, wie es sich – ob vollendet oder nicht – von außen präsentiert, ihm als seinen In-Begriff zu Grunde zu legen; den Umfang in sein Zentrum zu verkehren. Dann müssten sich alle einzelnen Sätze aus diesem her- und zu diesem hinleiten lassen.

Allerdings läge dieses logische 'Zentrum' dann außerhalb des Systems! Jenes mag 'in sich schlüssig' sein. Aber ob und wozu es was taugt, bleibt ganz offen.


*

Dass ein Denken Anspruch auf Systematik erhebt, ist in den Wissenschaften heute ohnehin sittenwidrig. Wozu also diese Erörterung?

Ich bin in der glücklich unglücklichen Lage, ein System vortragen zu können – also zu sollen, wie mir scheint. Ich habe einmal die Neigung, in alles, was in meiner Vorstellung vorkommt, Ordnung zu bringen; nicht um der Ordnung willen, sondern um die Übersicht nicht zu verlieren. Die Solidarität der andern Gedanken möge mich daran hindern, mich von dem einen Gedanken in den Abgrund ziehen zu lassen. Darauf, ein System hinein zu bringen, habe ich es nie angelegt. Aber es ist im Lauf der Jahre und Jahrzehnte so gekom-men. Es traf sich, dass manche Denkfigur sich auf dem einen wie auf dem anderen Ge-dankenfeld aufnötigte und bewährte – und mich einen logischen Zusammenhang zwischen ihnen vermuten ließ.


So trage ich sie nun vor; als Fragmente eines unvollendeten Ganzen, von denen sich jedes selbst behaupten muss und doch auf die Solidarität der andern rechnen kann; als Wendel-treppe. Ob es nun  ein vollendetes System und Ganzes ist, davon hängt gar nichts ab. Es mag so sein oder anders. Wer meinen Vortrag auf dieser oder jener Windung kritisiert, weil ich da eine durch nichts belegte Prämisse verwende, muss sich lediglich gefallen las-sen, dass ich ihn auf diese oder jene (synchrone) Windung verweise, wo eben jene Prä-misse begründet wird.

Und wenn der Leser auf der vierten absteigenden Windung eine Denkfigur wieder zu erkennen meint, die ihm auf der achten aufsteigenden Windung schon einmal begegnet ist, bin ich’s zufrieden. 
20. 1. 14

Stufen

Nachtrag. 
Das obige ist, wie es sich in der Philosophie gehört, zugleich richtig und falsch. Die Argu-mentation ist richtig, aber falsch ist die Prämisse. Ich hatte zum Zeitpunkt der Nieder-schrift den Gral der Transzendentalphilosophie noch nicht aufgefunden. Nämlich: Ein kritisches System der Vernunft ist nicht in definierten Begriffen und geprüften Schluss-regeln darstellbar - dann müsste es allerdings als zeitlos vorgetragen werden, so dass kein Satz 'vor' einem anderen gälte. Sondern es werden Vorstellungen auseinander entwickelt, und da kommt allerdings die eine vor der andern und die andere nach der einen. Es wird erwirkt, und es ist Einbildungskraft, die wirkt. Das System der Vernunft ist nicht gegeben, sondern muss erschaffen werden, da setzt der zweite Schritt einen ersten voraus - wobei sich der erste freilich als gültig nur erweist, indem er den zweiten 'zeitigt'. Nicht nach der Dauer fällt die Genesis der Vernunft in die Zeit, wohl aber aber nach der Folgerichtigkeit - aber auch das nur, wenn sie wirklich gewollt wird; und dies allerdings in Raum und Zeit.

Fichte selbst hatte in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre  noch eine rein logische Darstellung aus Begriffen und Schlüssen gegeben, doch die scholastische Herleitung, wo im direkten Widerspruch zur sachlichen Aussage ein theoretischer Teil einem praktischen vorausgesetzt wird, war ihm schon nach dem Ende der Niederschrift aufge-stoßen. Darum ist die darauffolgende Darstellung nova methodo nicht einfach eine formale, womöglich didaktische Verbesserung, sondern trägt ein neues Denken vor. Ein System aus Begriffen und Schlüssen wär erst nach der vollständigen Rekonstruktion der Vernunft aus der Prämisse des freien Willens möglich, aber nicht als ihre Begründung. Da aber andererseits die Re konstruktion der Vernunft nicht vollendet werden kann, solange ihre Konstruktion selbst stets unvollendet ist, ist sie von Seiten historisch-sinnlicher Iche nicht möglich.
JE

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