Mittwoch, 7. Dezember 2022

Vorstellen und Denken.

  steemit                                                  zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Denken, meinen, wissen, begreifen... - all das ist vorstellen. Vorstellen in genere.

Vorstellen in specie ist anschaulich: Es geschieht in Schemen, die der Einbildungskraft vor-schweben - mit fließenden Konturen, irisierenden Farben und schwindelnder Per-spektive. 

Denken in specie ist nun das sukzessive Bestimmen dieser Bilder.

Man möchte meinen, das wären alles gleitende Übergänge. Jedoch gibt es einen springen-den Punkt. Das ist die Anschaulichkeit von Raum und Zeit. Was nicht in Raum und Zeit liegt, können wir uns nicht vorstellen, nicht in Bilder fassen, und seien sie noch so undeut-lich und blass. Raum und Zeit sind die Bedingung der Anschauung.

Können wir uns aber Raum und Zeit vorstellen? 

Ewigkeit und Unendlichkeit können wir uns jedenfalls nicht vorstellen: Wir können sie denken, indem wir uns zuerst Raum und Zeit vorstellen - und dann von beiden abstrahie-ren. Abstrahieren ist von hinten dasselbe wie Reflektieren von vorn. Und es findet sich, dass wir auf Raum und Zeit überhaupt erst in dem Moment reflektieren konnten, als wir von ihnen abstrahiert haben!

Wir können uns Raum und Zeit nicht vorstellen. Vorstellen können wir uns Räume und Zeiten, die haben wir schon erlebt und gesehen. Danach können wir sie in der Vorstellung entwerfen: indem ich einen Punkt setze und mir 'alles, was um ihn herum ist', denke: Das wäre ein Raum, aber er bedarf eine Autors, der einen Punkt hineinfand. Den würde ich sehen können, wenn ich auf meine Einbildungstätigkeit genau genug reflektieren könnte, doch so lange müsste ich mit dem Einbilden aussetzen und sähe nichts. 

'Irgendwie' ist es wohl ein ununterscheidbares Kontinuum, und gar erst, wenn wir auch die Zeit noch anschauen wollen: denn dafür müssten wir uns den Punkt im Raum auch noch in Bewegung vorstellen, und zwar (wie die Reflexion sogleich bemerkt) in gleichmä-ßig fließender Bewegung immer geradeaus.

Den objektiven, homogenen und unendlichen Raum muss ich mir überall und jederzeit ebenso hineindenken, wie ich mir in der Zeit eine unerschöpflich bewegende Kraft tätig denken muss. Besser gesagt: Wenn mich einer fragte, wie ich es mit dem Vorstellen ange-fangen habe, müsste ich, über mich selbst erstaunt, es ihm so darstellen. Und da ich ein kluger und auch nicht ganz ungebildeter Kopf bin, müsste ich mich sehr über mich wun-dern.

Man kann den Aufstieg des anschaulichen, bildhaften Vorstellens zum begrifflich-diskur-siven Denken nicht erzählen, ohne die Begriffe, die am Ende herauskommen sollen, von Anfang an schon zu verwenden. Doch wenn man sie verwendet, kann man den Aufstieg zu ihnen gerade nicht erzählen.  

Man muss es andersrum versuchen - das originäre Vorstellen anschaulich nachbilden und die Begriffe, in denen alle logischen Schlüsse latent schon enthalten sind, beiseite lassen. 

Dabei tut sich dieser eine große Graben auf: das, was Kant das Apriori genannt hat; Raum und Zeit und die zwölf Kategorien. Über den kommt man nicht tastend rüber, über den muss man wie oben springen. Auf der hiesigen Seite kann man an das Bilden von Erfahrungsbegriffen gehen, über die man immer noch streiten, aber schließlich doch mit logischer Schärfe urteilen kann. 

 Jenseits hat man es erst noch mit anschaulichen Vorstellungen zu tun, von denen man fließende Bilder - Schemen - zeichnet und immer nur hoffen kann, dass der, dem man sie zeigt, willens ist, wiederzuerkennen, was man selber gesehen hat: denn das müsste er sich ein bilden. Zum Einverständnis zwingen wie im diskursiven Verfahren kann man im Reich bloßer Vorstellung niemand. 

Darum heißt dieses Reich transzendental, weil man rückwärts dorthin nur springen kann. 

9. 8. 20

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Bestimmt, unbestimmt, bestimmbar; setzen, abstrahieren.

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