Samstag, 10. Dezember 2022

Analog anschauen, digital repräsentieren; III.

 Wolfgang Dirscherl, pixelio.de                                              aus  Philosophierungen

Eben kommt eine Meldung, wonach der Unterschied zwischen Arbeits- und  Langzeit-gedächtnis (u. a.) der sei, dass die Erinnerungsgehalte im ersteren analog, im zweiten aber digital abgespeichert würden. Eine digitale Form der Repräsentation der Welt im neuronalen Gewebe selbst? Das wäre eine wahre Revolution in der Hirnforschung.

Leider wird es aber wohl so sein, dass nur wieder die Begriffe schludrig verwendet wur-den. Darum dieser Eintrag.*

30. 12. 20


Aus einer Diskussion in einem online-Forum; im Juni 2010:

...weil 'digital' einen Sinn nur im gegensätzlichen Verhältnis zu 'analog' hat. Allerdings wird das Analoge als solches erst kenntlich, seit sich das Digitale sozusagen 'rein' ausgebildet hat.
 

Das nächstliegende Beispiel ist natürlich das Zifferblatt der Uhr. Bei der analogen Uhr wird die Abfolge der einzelnen 'Zeitpunkte' nicht durch ein den 'Punkten' gänzlich äußer-liches Symbol 'bezeichnet'; sondern der Verlauf der Zeit wird durch die Eigenbewegun-gen der Zeiger 'gezeigt': Die Bewegung der Zeiger ist ein 'Abbild' der 'verlaufenden' Zeit. Der Zeiger repräsentiert die Zeit. Die Unterteilungen am Umkreis des Zifferblattes sind lediglich 'Anhalts'-Punkte.

Um ein digitales Ziffernblatt zu 'verstehen', muss ich die Bedeutung der Zahlen vorher ken-nen - und muss dann die Abfolge der Zeit'punkte' in meinem Kopf in das Bild der 'verlaufenden' Zeit übersetzen. Auf einem analogen Zifferblatt sehe ich, wie die Zeit verläuft. Ich muss keine Zahlen kennen, ich muss die Unterteilung des Tages in Stunden nicht kennen. Ein Fünfjähriger sagt: Wenn der große Zeiger da steht, ist die Mittagsruhe vorbei; dann kann ich wieder spielen.
 

In einem Spielfilm wird das Geschehen in bewegten Bildern 'gezeigt'; in dem Roman, der dem Drehbuch zugrundelag, wurde das Geschehen durch Worte 'bezeichnet'. Ich muss die Bedeutung der Schriftzeichen in meinem Verstand in Lautbilder umsetzen, die Laut-bilder zu Wörtern zusammenfassen und mir deren 'Bedeutung' re/präsentieren. Und das alles muss ich vor meinem inneren Auge in bewegte Bilder übersetzen: Ich muss mir et-was vorstellen. Im Film konnte ich etwas anschauen.

Eine wesentliche Prämisse hat die digitale Repräsentationsform: Sie setzt voraus, dass die Zeit nicht 'fließt', sondern aus identifizierbaren Punkten 'zusammengesetzt' ist. Ebenso kann 'der' Raum nur als Addition von einzeln bezeichneten (und als solchen bekannten) 'Räumen' vorgestellt werden. Das innere Bild, das ich 'mir mache', muss aus vorab be-kannten Daten – Maßeinheiten - zusammengesetzt werden. Die digitale Information muss ich erst noch 'ent/ziffern'. - In der analogen Darstellung ist sie sofort als ganze 'da'.

Grob gesagt: Die analoge Darstellungsweise hat den Vorteil der Fülle. Die digitale Dar-stellungsweise hat den Vorteil der Genauigkeit. Die eine ist unmittelbar, die andere ist Vermittlung.


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.... Nein, so kann es nicht sein: dass 'unser Denken auch in kleinsten Schüben erfolgt, also digital'. Ein Digit - von lat. digitus=(Zeige)finger - besteht aus zweierlei: zuerst aus einem Bedeutungsgehalt, und dann aus einem 'Zeiger', der auf ihn hinweist.

Es kann einen Bedeutungsgehalt geben, auf den kein Zeiger weist. Das dürfte auf die große Masse unserer Denkleistungen im Laufe eines Tages zutreffen. Sie kommen wie sie gehen. Man kann sie nicht behalten: Denn dazu müsste ich sie mit einem Zeiger versehen, durch den sie in meinen Gedächtnisspeicher einordnen kann. Mit einer kleinen Minderzahl von Denkleistungen machen wir genau das: Wir zeichnen sie durch Zeiger ('Begriffe') aus und können uns seither wieder an sie erinnern.

Umgekehrt kann es nicht sein: dass schon ein Zeiger da wäre, bevor noch ein Bedeutungs-gehalt da war, auf den er weisen könnte. 



Allerdings sind im erlernten Begriffsystem eines sprachmächtigen Kulturmenschen tau-sende solcher Zeiger 'schon da' - nämlich gebunden an das, auf was sie zeigen -, so dass in diesem Netz eine große Masse von den aus meiner Einbildungskraft sprudelnden 'Bedeu-tungen' sozusagen 'von alleine' hängenbleiben. Die 'kleinsten Schübe' werden durch die be-grifflichen Zeiger in das Sprudeln 'von außen' hineingetragen . Anschauung ist Anschauung und Reflexion ist Reflexion. Erst das Denken, dann das Denken des Denkens.

Es würde mich interessieren, wie die Bilder in unserem Gedächtnis gespeichert sind. Erst dann könnte ich sagen: Das kann sein, das kann nicht sein.

Dies “
Quale” fasziniert mich…) 


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... Das mit dem Speichern ist mir deswegen so wichtig, weil wir dann auch den "Zeigefinger" besser verstehen könnten. Es besteht der Verdacht, dass in unserem Gedächtnis mehr gespeichert ist, als wir uns erinnern können. Es kommt manchmal nur zufällig ans Tages-licht, manchmal unter besonderen Bedingungen wie z.B. während einer psychoanalytischen Sitzung oder in Hypnose.

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... 'Wie' das gespeichert - und noch viel interessanter: 'wie' es dann wieder aufgerufen wird, das kann einstweilen keiner sagen, und es gibt theoretische Gründe für die Annahme, dass man es niemals wissen wird. Die Hirnforscher teilen uns mit, dass schon ganz einfache 'Ge-halte' nicht etwa in dieser oder jener bestimmten Nervenzelle (Neuron) gespeichert werden, sondern bereits in 'Assemblies' von etlichen Dutzend, die über weit entfernte Hirnregionen verteilt und durch Synapsen mit einander verschaltet sind.

So schon für das 'Denken'. Vollends mysteriös wird es aber beim 'Denken des Denkens', der Reflexion. Die Hirnforschung hat buchstäblich nicht die leiseste Vorstellung davon, wie sie zustande kommt.

Vor zehn Jahren (siehe ‘Vom Gehirn zum Bewußtsein’, in: Elsner, N., u. Gerd Lüer (Hg.), “Das Gehirn und sein Geist”, Göttingen 2000) ist das Wolf Singer immerhin noch als ein Problem aufgefallen, aber seine gemutmaßte 'Lösung' war höchst zweifelhaft: Die Reflexion käme durch 'Iteration', das heißt die sehr rasche, sehr häufige Wiederholung immer desselben Vorstellungsakts zustande - so als würde die Vorstellung über ihre eigenen Füße stolpern.

Das hatte wenig Plausibilität für sich, aber immerhin hat der Forscher noch das Problem gesehen. Doch in demselben Aufsatz hat er auch erstmals sein seitheriges Steckenpferd angekündigt: die Attacke wider das Ich und seine Freiheit und die Behauptung durchgängiger kausaler Determiniertheit. Und dieses reitet er seither ohn’ Unterlass, und da hat er das störende Thema Reflexion schnell wieder beiseite gelegt.

Und schon sind wir wieder bei digital und analog: Denn eine 'Stelle', eine 'Instanz', einen 'Arbeitsgang' oder sonstwas, wo die analoge Anschauung in eine digitale Repräsentation 'umgerechnet' wird (und zurück!), und die man eben 'ich' oder 'Bewusstsein' oder 'Refle-xion' nennen könnte, die muss es geben: weil dieses Umrechnen ja tatsächlich geschieht. Solange Singer nicht zeigen kann, dass und womöglich wie dieser Akt durch etwas Vor-angegangenes 'determiniert' sein könnte, hat er gar kein Recht, auf die Annahme eines Ich zu verzichten.

Der Übergang von analog zu digital ist nämlich genau das, dessen Möglichkeit er bestreitet: Er ist ein Bruch.Der Bruch besteht in der Einführung des Verneinungs- und vor allem des Frage-Modus, die beide nur in der digitalen Repräsentationsweise möglich sind, nicht aber in der ihr zu Grunde liegenden analogen. Wie soll der Umstand, dass ich verneine oder gar: ob ich frage, denn 'determiniert' sein? Er ist ja die Entdeterminierung selbst. 


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 ... Das ist allerdings der entscheidende Unterschied: Auf analoge Weise kann ich keine Ver-neinung wiedergeben. 'Ein Pferd' kann ich mühelos 'zeigen' – ich brauche nicht einmal einen Fotoapparat, ein paar Bleistiftstriche reichen. Aber wie soll ich 'kein Pferd' zeigen? Kein Pferd sieht ganz genauso aus wie keine Suppenschüssel oder... keine Verneinung. Für 'nein' und 'nicht' brauche ich ein Digit, dessen Bedeutung jedermann vorab schon kennt.

Und wie ist es dann erst beim Fragemodus! Wie soll ich 'was ist ein Pferd' bildlich darstellen – ohne Fragezeichen?! Die Fülle der Anschauung ist der digitalen Zersetzung alles Wirkli-chen und Gedachten in Millionen Bedeutungsatome an Reichtum haushoch überlegen. So-bald wir uns aber klarmachen, dass uns 'die Welt' immer noch vielmehr Fragen aufgibt als sie beantwortet, erkennen wir, dass der Digitalmodus die Bedingung allen Wissens ist. Be-griffe ohne Anschauung sind leer, sagt Kant, aber Anschauung ohne Begriff ist blind.

Nota, Nov. 2013: Nicht damit zu verwechseln: der Umstand, dass eine Sinneszelle Reize allerdings 'im Takt' aufnimmt, in der kleinsten neuronalen Zeiteinheit von (soundsoviel) Millisekunden. Es ist wie in einem Kinofilm: Das Celluloidband ist aus ein paar Millionen einzelnen Bilder zusammengesetzt. Wenn sie rasch hintereinander abgespult werden, 'er-scheinen' sie wohl in diskreten 'Sprüngen', aber nicht mir: Ich nehme sie als stetigen Fluss wahr. Denn natürlich hat zwar die Filmkamera ein paar Millionen Mal ihre Bilder 'geschossen'. Aber es war ein stetiger Fluss, den sie 'aufgenommen' hat.

 
 Uwe Steinbrich  / pixelio.de 

Der analoge Modus ist der Modus der Anschauung. Er ist nicht "positiv": Positiv ist erst das Setzen eines Was als Dieses. Um das Erscheinende der Anschauung als ein Dieses zu fassen, bedarf es der Verneinung; determinatio est negatio. Es müsste gefasst werden als 'nicht-al-les-Andere'. Das lässt sich nicht anschauen, weil es das Paradox einer 'unendlichen Menge' ist: Das Unendliche lässt sich nicht anschauen. Es muss verendlicht werden zu 'nicht-Die-ses'. - Also ist das Was der Anschauung selber zu bestimmen: Das Dieses muss selber 'ge-fasst' werden: Es muss 'vorgestellt' werden; durch Negation, d. h. Übergang in den digitalen Modus. Die Vorstellung ist die (qua Negation) digitalisierte Anschauung. Das Tier kann anschauen, aber mangels Digitalisierung nicht vorstellen.

2. 11. 08


*) Nachtrag zum Vorspann:
Das was vielleicht übereilt. Gewiss ist auch im Langzeitgedächtnis nichts schriftlich eingetragen. Doch wenn ein Wort als Klang gespeichert wird, ist auch der ein digit, das an sich gar nichts bedeutet - wohl aber in einem 'Sprachspiel'. Und dass Wort-Laute an einander an klingen, kann ich kaum bestreiten. So lassen sich z. B. Personennamen wiederfinden. Warum also nicht andere Nomina? Ein gereimtes Gedicht lässt sich besser behalten als ein Prosatext.
JE


 

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