Nun stellt die Wissenschaftslehre die Bedingungen auf, unter welchen das Ich sich selber setzt und sich ein Nichtich entgegensetzt, und darin liegt der Beweis ihrer Richtigkeit. Diese Bedingungen sind ursprüngliche Handlungsweisen des menschlichen Geistes; was dazu gehört, dass das Ich sich selbst setzen und sich ein Nichtich entgegensetzen könne, ist notwendig. Diese Bedingungen beweist die Wissenschaftslehre durch Deduktion.
Der Beweis durch Deduktion geht so: Wir können es als das Wesen des menschlichen Geistes annehmen, dass das Ich sich selbst setze und sich ein Nichtich entgegensetze; nehmen wir aber dies an, so müssen wir noch manches andere annehmen: Dies heißt deduzieren, von etwas anderm ableiten. Kant sagt: Ihr verfahrt immer nur nach den Kategorien, die Wissenschaftslehre aber sagt: So gewiss ihr euch als Ich setzt, müsst ihr so verfahren. In den Resultaten sind beide einig, nur knüpft die Wissenschaftslehre noch an etwas Höherem an.
1) Die Wissenschaftslehre sucht sonach den Grund von allem Denken, das für uns da ist, in dem innern Verfahren des endlichen Vernunftwesens überhaupt. Sie wird sich kurz so aus-drücken: Das Wesen der Vernunft besteht darin, dass ich mich selbst setze, aber das kann ich nicht, ohne mir eine / Welt, und zwar eine bestimmte Welt entgegenzusetzen, die im Raume ist und deren Erscheinungen in der Zeit auf einander folgen. Dies alles geschieht in einem ungeteilten Moment; da dies geschieht, geschieht zugleich alles Übrige. Aber die Philosophie und besonders die Wissenschaftslehre will diesen Einen Akt genau kennen lernen, nun aber lernt man nichts genau kennen, wenn man es nicht zerlegt und zergliedert. So also macht es auch die Wissenschaftslehre mit dieser einen Handlung des Ich, und wir bekommen eine Reihe miteinander verbundner Handlungen des Ich - dar-um, weil wir die Eine Handlung nicht auf einmal fassen können, weil der Philosoph ein Wesen ist, das in der Zeit denken muss.
___________________________________________________________________ J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, I. Einleitung, Hamburg 1982, S. 8f.
Nota. - Die Wissenschaftslehre ist realistisch in dem Sinn, dass sie von einer Tatsache aus-geht, die in Raum und Zeit gegeben ist: Die Menschen (die Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft, muss man hinzufügen) 'setzen' sich wirklich als 'Iche', indem sie sich ein/em Nichtich entgegensetzen. Diesen einen Akt zerlegt sie in seine einzelnen Bestimmungen. Das nennt sie Deduktion: Sie zerlegt ein Faktum in seine 'logischen', d. h. hier: geneti-schen Voraussetzungen. Sie deduziert nicht Faktisches aus logischen Prämissen: Das tut der Dog-matiker. Die Wissenschaftslehre aber verfährt phänomenologisch und kritisch.
28. 6. 15
Nota II. - Diese ursprüngliche eine Handlung des Ich wird in der Wissenschaftslehre Tat-handlung heißen. Sie kommt im Bewusstsein nicht vor, weil sie ihm zu Grunde liegt.
Nota III. - Genauer gesagt: Wenn ich die Wissenschaftslehre als ein System denke, muss ich die Tathandlung als ihren Ausgangspunkt setzen. Der Ausgangspunkt der Kritik war dagegen das gegebene System der empirischen Vernunft. Welchen Ausgangspunkt aber die Darstellung der Wissenschaftslehre wählen soll, kommt jedesmal neu auf den Versuch an.
JE, 28. 7. 15
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