Samstag, 3. Dezember 2022

Bedeutungskerne und Denkatome.

  G. Richter 1974                                                                     zu Philosophierungen
aus spektrum.de, 3. 12. 2022

Wie Begriffe das Denken begrenzen können
Begriffe helfen Menschen, die Welt um sie herum zu beschreiben und zu erfassen. Doch manchmal engen sie auch ein, meint unser Kolumnist Matthias Warkus.


von Matthias Warkus

Menschen sind Meister darin, Dinge zu kategorisieren. Manchmal können Begriffe aber auch zu starren Denkmustern führen oder diese zementieren.

In den vergangenen fünf Jahren hat sich diese Philosophie-Kolumne viel mit Begriffen beschäftigt, denn auch in der Philosophie geht es immer wieder um Begriffe. Man könnte sogar sagen, dass sich ein entscheidender Teil der Philosophie um die Frage dreht, welchen Begriff von »Begriff« man haben sollte. Einerseits ist das natürlich wie so vieles eine Geschmacksache. Wenn ich beispielsweise den etwas flapsigen Satz schreibe »Begriffe sind etwas Wunderbares, denn ohne sie könnten wir nicht denken«, bietet dieser bereits viele Möglichkeiten, sich an ihm zu reiben. Unter anderem, weil man ihn in der Regel so lesen wird, als wären erst die Begriffe da und dann würden wir sie zum Denken benutzen, so wie wir einen Werkzeugkasten benutzen, wenn wir ein handwerkliches Problem im Haushalt lösen möchten. Mit mindestens demselben Recht kann man jedoch auch behaupten, dass Begriffe erst durch das Denken hervorgebracht werden.

Welchen Charakter wir Begriffen unterstellen, kann aber genauso in praktischer, gar politischer Hinsicht relevant werden. Wie kann das sein, bei etwas, was sich letztlich nur in unseren Gedanken abspielt.

Bereits im Wort »Begriff« kommt der Griff, das Greifen nach etwas vor – es ist damit eine ganz gute Übertragung der lateinischen Vorlage »conceptus«, die auch von »Erfassen« oder »Empfangen« kommt. Doch was ist dieses andere, dieses Etwas, das begriffen wird? Einer traditionellen Vorstellung zufolge ist ein Begriff etwas Allgemeines, worunter man dann verschiedene Einzelfälle (zum Beispiel Gegenstände in der Außenwelt) subsumieren kann. Ein Begriff ist dann etwas, mit dessen Hilfe man scharfe Urteile fällen, womit man die Welt geradezu in zwei Hälften zerlegen kann: Auf der einen Seite steht all das, was unter den Begriff fällt, auf der anderen Seite der Rest. Ein Begriff wie »Quadrat« lässt die Welt zerfallen in alles Quadratische hüben und alles Nichtquadratische drüben.

Der bekannte Satz »Alles im Universum ist entweder eine Ente oder nicht« drückt diese Idee aus und vermittelt, dass sie zugleich eine Binsenweisheit und irgendwie merkwürdig unintuitiv ist. Schließlich gibt es jede Menge Gegenstände, die sich nur schwer unter einfache Begriffe bringen lassen.

Eine Art, darauf zu reagieren, ist natürlich, Begriffe anhand dieser Schwierigkeiten zu kritisieren und weiterzuentwickeln. Das kennen wir aus der Wissenschaft: Während in der Antike alle belebten Gegenstände entweder als Tier oder als Pflanze klassifiziert wurden, haben wir heute verschiedene, wesentlich differenziertere Ansätze zur Gliederung der belebten Welt in mehrere Domänen und Reiche. Damit wird unter anderem der Tatsache Rechnung getragen, dass es nach der alten Klassifikation schwierig war, die Pilze einzuordnen.

Enten sind nicht immer gelb.

Begriffe können ihren Gehalt auch außerhalb kontrollierter wissenschaftlicher Prozesse weiterentwickeln und sozusagen ein Eigenleben führen. Mit »Ente« bezeichnen wir heute vermutlich häufiger fiktive Charaktere wie Donald Duck oder unbelebte Nachbildungen von Enten wie etwa Quietscheentchen als echte Enten. Aus nicht ganz klaren Gründen hat sich auch die Vorstellung etabliert, Enten seien grundsätzlich gelb – dabei trifft das nur auf die Küken zu und auch längst nicht auf alle. Die Verwendung bestimmter Begriffe scheint den einzelnen Gegenständen, die wir unter sie bringen, etwas von ihrer Individualität zu nehmen und ihnen im Gegenzug oft sogar etwas aufzubürden, was sie nicht verdienen.

Die Einteilung von Büchern in Genres, die für ihre Vermarktung relevant sind, führt dazu, dass bestimmte Arten von Büchern erst gar nicht geschrieben werden.

Wir Menschen betrachten und klassifizieren die Welt zudem nicht nur, sondern wir formen sie in vielerlei Hinsicht auch selbst. Dazu verfügen wir heute über immense Mittel – unsere mit naturwissenschaftlicher Erkenntnis verbundene Technik und unsere komplexen, arbeitsteiligen und hierarchischen Organisationen wie Staaten und Konzerne. Mit diesen Mitteln können wir inzwischen in großem Rahmen die Welt – und die Menschen, die in ihre leben – in unsere Begriffe zwingen. Einige Beispiele: Die scharfen Linien zwischen verschiedenen Bodennutzungen auf dem Land oder verschiedenen Straßenbelägen in der Stadt lassen erkennen, dass wir beanspruchen, dass für jeden Quadratzentimeter Boden geklärt werden kann, wem er gehört. Die Einteilung von Büchern in Genres, die für ihre Vermarktung relevant sind, führt dazu, dass bestimmte Arten von Büchern erst gar nicht geschrieben werden. Die Vorstellung, jeder Mensch müsse entweder unter den Begriff »männlich« oder den Begriff »weiblich« fallen, die in Deutschland bis ins Jahr 2013 im Personenstandsrecht niedergelegt war, und diese Einteilung müsse wiederum kongruent sein zu bestimmten anatomischen Einteilungen, hat zum Beispiel oft die Folge gehabt, dass diese Kongruenz durch chirurgische Eingriffe an Kleinkindern hergestellt werden sollte.

Einige der einflussreichsten Strömungen der Philosophie haben sich seit etwa Mitte des 20. Jahrhunderts damit beschäftigt, solche unguten Wechselwirkungen zwischen traditionellem begrifflichem Denken und unfreier Lebensrealität zu kritisieren, und sich gefragt, ob und wie »das Zurüstende und Abschneidende« des Begriffs, wie der deutsche Philosoph Theodor W. Adorno (1903–1969) es formulierte, sich überwinden lässt. Die Bilanz ist dabei im Großen und Ganzen eine melancholische: Wir schaden uns mit unserer durch die westliche philosophische Tradition geprägten Art zu denken oft genug selbst, aber das Denken ganz aufzugeben ist schließlich auch keine Option.


Nota. - Der springende Punkt ist, dass wir Menschen hier im Westen im Zeitalter der Vernunft leben. In einer vernünftigen Welt - wäre das dasselbe? Nein, Zeitalter der Vernunft heißt nicht, dass es überall jederzeit vernünftig zugeht, sondern nur, dass wir früher oder später und sei es nach großen Katastrophen darin übereinkommen, dass letzten Endes Vernunft den Ausschlag zu geben hat.

Die Idee der Vernunft bedeutet, dass wir dank unserer Sinne und unseres Denkvermö-gens die Welt so erkennen können, wie sie wirklich ist, und so gestalten können, wie wir es gemeinsam für richtig erachten.

Das ist keine Kleinigkeit. Es unterstellt, dass die Welt aus kleinsten Teilen zusammenge-baut ist, deren Bedeutung wir mit unsern Sinnen wahrnehmen und deren gemeinsame Zusammensetzung wir durch logisches Schlussfolgern 'nach-vollziehen' können. Die Welt wäre dann ein Behältnis - einfachheitshalber ein Kugel -, worin jede kleinste Stelle mit so einem kleinsten Teilchen gefüllt wäre; und wo man noch keines gefunden hat, da muss man eben weiter suchen. Da die logischen Verfahren nach so vielen Jahrhunderten weit genug geklärt sind, dass man in der reellen Forschung darauf bauen kann, bleibt als Erkenntnisproblem lediglich die Aufgabe übrig, die Atome so exakt zu definieren, dass sie ihren gebührenden und durch alle andern bestimmten Platz restlos einnehmen und nirgends auf Stellen übergreifen, die ihnen nicht zukommen.

Diese Vorstellung ist so lächerlich, dass man sie nur aussprechen muss, um sie zu zerstreuen.

Darum spricht sie keiner aus, und ihre Begründer - Christian Wolff und Alexander Baumgarten - sind seit Kants Kritiken nur noch den Philologen ein 'Begriff'.

Es gibt aber eine philosophische Richtung, die mittlerweile die ganze westliche Hemi-sphäre überschwemmt, die stillschweigend gerade so verfährt, als würden sie sie nach Punkt und Komma beim Worte nehmen.

JE

 


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