Samstag, 8. April 2023

Kant hat kein System aufgestellt, sondern nur Kritiken geschrieben.

 
Kant, aus Op. post                                                                                                          aus  Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Man philosophierte schon früher, aber nur dunkel; es lag noch kein deutlicher Begriff zu Grunde. Die Skeptiker warfen vorzüglich die Frage auf, ob wohl unsere Vorstellungen ob-jektive Gültigkeit hätten? Durch Hume, einen der größten Skeptiker, wurde Kant geweckt. Letzterer stellte aber kein System auf, sondern schrieb nur Kritiken, d. h. vorläufige Unter-suchungen über die Philosophie. 

Wenn man aber das, was Kant besonders in der Kritik der reinen Vernunft sagt, in ein System fasst, so sieht man, dass er die Frage der Philosophie nicht richtig gefasst hat. Er drückte sie so aus: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? und beantwortet sie so: Es gibt eine gewisse Notwendigkeit, gewisse Gesetze, nach denen die Vernunft handelt in der Hervorbringung der Vorstellungen. Was durch diese Notwendigkeit, durch diese Ge-setze zu Stande gebracht wird, hat objektive Gültigkeit. 

Also von den Dingen an sich, von einer Existenz ohne eine Beziehung auf ein Vorstellen-des, ist bei Kant nicht die Rede. Es war ein großer Missverstand, dass man das, was Kant in seinen Kritiken vortrug, für System hielt.

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J. G . Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, I. Einleitung, Hamburg 1982, S. 5 


Nota I.- Kant hat in seinen letzten Lebensjahren im als Opus postumum bekannten Ma-nuskript versucht, ein System zu entwickeln. Er ist nicht von der Stelle gekommen.

22. 7. 15

Nota II. - Es ist ein wenig komplizierter.

Dass in den Kritiken kein System ausgeführt ist, wird niemand mehr bestreiten. Wohl aber, dass das ein Mangel wäre, dem abgeholfen werden muss.
 
Dass aber Kant sich durchaus bewusst war, lediglich eine Kritik - und wenn auch in der Kritik der reinen Vernunft eine weltumstürzende - vorgetragen zu haben, kann jeder in den Vorworten und Einleitungen nachlesen. Er wollte zunächst den Boden bereiten, auf dem dann aufzubauen sein würde.
 
Als dann aber stürmische junge Leute ebendies in Angriff nahmen und "über Kant hinaus" gehen wollten, fand er plötzlich, die Kritiken seine durchaus keine Prolegomena, sondern seien selber Philosophie. Er hat von Fichte, dem er ja zu einem Verleger und zu plötzlichem Ruhm verholfen hatte, erwartet, dass er sich an eine didaktische Darstellung des in den Kri-tiken vorliegenden Materials heranmachen und zu einem ein System ausarbeiten würde. Als Fichte dazu nicht bereit war und auf fortgesetzter eigener Arbeit bestand, war Kant, wie er in seiner berüchtigten Erklärung gegen Fichte dann selbst bezeugte, so verschnupft, dass er sich von jedem geistigen Zusammenhang mit der Wissenschaftslehre lossagte. 

Doch hat ihn der Umstand, dass seine eigene Philosophie, die er der Sache nach für eine Einheit hielt, doch nur in Bruchstücken vorlag, weiter beunruhigt, und er begann die Arbeit an einer abschließenden umfassende Darstellung, mit der er nicht mehr fertigwurde und die daher als sein Opus postumum bekannt ist. 
 
Es war aber nicht nur sein hohes Alter, das ihn von der Vollendung abhielt. Im Sinn gehabt haben mag er einen Übergang aus der transzendentalen Vernunftkritik zu einer positiven Grundlegung der seinerzeit modernsten Newton'schen Physik. Doch bis dahin kommt er gar nicht erst. Er fängt immer wieder neu aner ersinnt sogar ständig neue Titel für sein ab-schließendes Werk, und schließlich* kommt er sogar auf den Einfall, die Summe all seines Denkens mit "Philosophie als Wissenschaftslehre in einem vollständigen System aufgestellt von..." zu überschreiben.
*) Das Manuskript wurde ungeordnet vorgefunden. Die Einträge sind nicht datiert. Die erste Veröffentlichung des Op. post. in der Akademie-Ausgabe hat eine Anordnung nach thematischen Gesichtspunkten vorgenommen. Da steht obiger Eintrag ziemlich weit vorn. Die neue, dem Faksimile folgende Ausgabe rekonstruiert die zeitliche  Reihenfolge der Nie-derschrift. Hier findet sich die Wissenschaftslehre erst ganz am Ende; wie ein Vermächtnis, Herr Prof. Kühn! 
JE 15. 5. 21




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