Dienstag, 16. Dezember 2025

Wie verhält sich die Wissenschaftslehre zur Logik?

René Burri                          zu Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

[65] Die Wissenschaftslehre soll für alle mögliche Wissenschaften die Form aufstellen. – Nach der gewöhnlichen Neigung, an der wohl auch etwas Wahres seyn mag, thut die Logik das gleiche. Wie verhalten sich diese beiden Wissenschaften, und wie verhalten sie sich insbesondere in Absicht jenes Geschäfts, das beide sich anmaassen?

Sobald man sich erinnert, dass die Logik allen möglichen Wissenschaften bloss und allein die Form, die Wissenschaftslehre aber nicht die Form allein, sondern auch den Gehalt ge-ben solle, so ist ein leichter Weg eröffnet, um in diese höchst wichtige Untersuchung einzu-dringen. In der Wissenschaftslehre ist die Form vom Gehalte, oder der Gehalt von der Form nie getrennt; in jedem ihrer Sätze ist beides auf das innigste vereinigt. Soll in den Sätzen der Logik die blosse Form der möglichen Wissenschaften, nicht aber der Gehalt liegen, so sind sie nicht zugleich Sätze der Wissenschaftslehre, sondern sie sind von ihnen verschieden; und folglich ist auch die ganze Wissenschaft weder die Wissenschaftslehre selbst, [66] noch etwa ein Theil von ihr; sie ist, so sonderbar dies auch bei der gegenwärtigen Verfassung der Philosophie jemandem vorkommen möge, überhaupt keine philosophische, sondern sie ist eine eigene, abgesonderte Wissenschaft, wodurch jedoch ihrer Würde gar kein Abbruch geschehen soll.

Ist sie dies, so muss sich eine Bestimmung der Freiheit aufzeigen lassen, mit welcher das wissenschaftliche Verfahren aus dem Gebiete der Wissenschaftslehre auf das der Logik übertrete, und bei welcher sonach die Grenze zwischen beiden Wissenschaften liege. Eine solche Bestimmung der Freiheit ist denn auch leichtlich nachzuweisen. In der Wissen-schaftslehre nemlich sind Gehalt und Form nothwendig vereinigt. Die Logik soll die blosse Form, vom Gehalte abgesondert, aufstellen; diese Absonderung kann, da sie keine ur-sprüngliche ist, nur durch Freiheit geschehen. Die freie Absonderung der blossen Form vom Ge-halte wäre es sonach, durch welche eine Logik zu Stande käme. Man nennt eine solche Ab-sonderung Abstraction; und demnach besteht das Wesen der Logik in der Abstraction von allem Gehalte der Wissenschaftslehre.

Auf diese Art wären die Sätze der Logik bloss Form, welches unmöglich ist; denn es liegt im Begriffe des Satzes überhaupt, dass er beides, Gehalt sowohl als Form, habe. (§ 1) Mithin müsste das, was in der Wissenschaftslehre blosse Form ist, in der Logik Gehalt seyn, und dieser Gehalt bekäme wieder die allgemeine Form der Wissenschaftslehre, die aber hier be-stimmt als Form eines logischen Satzes gedacht würde. Diese zweite Handlung der Freiheit, durch welche die Form zu ihrem eigenen Gehalte wird, und in sich selbst zurückkehrt, heisst Reflexion. Keine Abstraction ist ohne Reflexion; und keine Reflexion ohne Abstrac-tion möglich. Beide Handlungen, von einander abgesondert gedacht, und jede für sich betrachtet, sind Handlungen der Freiheit; wenn in eben dieser Absonderung beide aufein-ander bezogen werden, so ist unter Bedingung der einen, die zweite nothwendig; [67] für das synthetische Denken aber sind beide nur eine und ebendieselbe Handlung, angesehen von zwei Seiten.

Hieraus ergiebt sich das bestimmte Verhältniss der Logik zur Wissenschaftslehre. Die er-stere begründet nicht die letztere, sondern die letztere begründet die erstere: die Wissen-schaftslehre kann schlechterdings nicht aus der Logik bewiesen werden, und man darf ihr keinen einzigen logischen Satz, auch den des Widerspruchs nicht, als gültig vorausschicken; hingegen muss jeder logische Satz, und die ganze Logik aus der Wissenschaftslehre bewie-sen werden; – es muss gezeigt werden, dass die in der letzteren aufgestellten Formen, wirkliche Formen eines gewissen Gehaltes in der Wissenschaftslehre seyen. Also entlehnt die Logik ihre Gültigkeit von der Wissenschaftslehre, nicht aber die Wissenschaftslehre die ihrige von der Logik.

Ferner, die Wissenschaftslehre wird nicht durch die Logik, aber die Logik wird durch die Wissenschaftslehre bedingt und bestimmt. Die Wissenschaftslehre bekommt nicht etwa von der Logik ihre Form, sondern sie hat sie in sich selbst, und stellt sie erst für die mögliche Abstraction durch Freiheit auf. Im Gegentheil aber bedingt die Wissenschaftslehre die Gültigkeit und Anwendbarkeit logischer Sätze. Die Formen, welche die letztere aufstellt, dürfen in dem gewöhnlichen Geschäfte des Denkens und in den besonderen Wissenschaf-ten auf keinen anderen Gehalt angewendet werden, als auf denjenigen, den sie schon in der Wissenschaftslehre in sich fassen – nicht nothwendig auf den ganzen Gehalt, den sie dort in sich fassen, denn dadurch würde keine besondere Wissenschaft entstehen, sondern nur Theile der Wissenschaftslehre wiederholt werden, aber doch nothwendig auf einen Theil desselben, auf einen in und mit jenem Gehalt begriffenen Gehalt. Ausser jener Bedingung ist die durch ein solches Verfahren zu Stande gebrachte besondere Wissenschaft ein Luftge-bäude, so logisch richtig auch in derselben gefolgert seyn möge.[68]

Endlich, die Wissenschaftslehre ist nothwendig – nicht eben als deutlich gedachte, systema-tisch aufgestellte Wissenschaft, aber doch als Naturanlage – die Logik aber ist ein künstli-ches Product des menschlichen Geistes in seiner Freiheit. Ohne die erstere würde über-haupt kein Wissen und keine Wissenschaft möglich seyn; ohne die letztere würden alle Wissenschaften nur später haben zu Stande gebracht werden können. Die erstere ist die ausschliessende Bedingung aller Wissenschaft; die letztere ist eine höchst wohlthätige Er-findung, um den Fortgang der Wissenschaften zu sichern und zu erleichtern. ___________________________________________________________________
J. G. Fichte, Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie, §6  

 

Nota. - 'Die Wissenschaftslehre begründet die Logik' -? Olalà!

- Logik ist ja wohl ein Prädikat des Denkens: Man denkt log isch oder nicht. Menschen denken. Wenn also etwas dran ist am Anspruch der Wissenschaftlehre, das Denken zu erklären, dann begründet sie eo ipso das Logische daran. 

Doch verfährt sie nicht selber log isch? - Ihre Darstellung verfährt diskursiv, das ist wahr. Anders können wir nicht 'darstellen'. Aber sie stellt nicht das diskursive Verfahren dar, in-dem sie etwa Begriffe durch logische Folgerungen zu Sätzen verknüpfte. Sondern sie be-schreibt den Gang des Vorstellens in auseinander hervorgebrachten Bildern - schlecht und recht, mag man sagen, und darum ist auch niemand genötigt, ihre Beschreibung einzusehen. Sie zu ignorieren ist ein Leichtes und steht jedermann frei. Er wird dann eine ganze Menge Einsichten nicht haben können, doch auch das muss er ja nicht. Er kann allerdings, und das kann man ihm empfehlen, versuchen, den Gang dieser Bilder selber in sich hervorzubrin-gen, und wenn es ihm gelingt, wird er finden, dass er manches versteht, was ihm vorher rätselhaft war, besser gesagt: noch rätselhafter als nun. Und je öfter er es versucht, um so weniger rätselhaft wird es ihm vorkommen.
JE, 13. 10. 20

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