E. Muybridge
aus Tagesspiegel, 29. 11. 2025 zu Jochen Ebmeiers Realien
Die Vorstellung, unsere Augen seien einfach nur Maschinen, mit denen wir eins zu eins die Realität abbilden, könnte falscher nicht sein. Denn Gehirn und Sehapparat gaukeln uns vieles nur vor.
Aus gutem Grund. Wären die Augen einfach nur Kameras, dann würde beim schnellen Bewegen der Augen von links nach rechts genau das passieren, was zum Beispiel bei Kameras im Eishockeystadion passiert, wenn sie dem rasend schnellen Puck folgen: Man sieht nur Schlieren, bis die Kamera wieder ruhig steht und den Puck im Tor zeigt.
Das wäre für Tiere, die sich und ihre Augen nun mal ständig durch ihre Umwelt bewegen müssen, extrem unpraktisch. Anders gesagt: Diejenigen überlebten, deren Gene sich so veränderten, dass sie das ständige Verschwimmen ihres Blickfeldes bei jeder Augenbewegung verhinderten. Und zwar, indem die Bildübertragung einfach kurz unterbrochen wird.
Während sich die Augen vor dem Spiegel von links nach rechts bewegen, schaltet unsere Wahrnehmung kurzzeitig ab, wir sind für etwa 20 bis 40 Millisekunden buchstäblich blind. Diese „Sakkaden“ genannten Unterbrechungen des Sehvermögens sind keineswegs selten: Bei schätzungsweise 15.000 Augenbewegungen pro Stunde haben Menschen pro Sekunde etwa ein bis vier Sakkaden.
Das bedeutet, dass jeder Mensch in jeder Stunde insgesamt rund 7,5 Minuten lang nichts sieht – ohne es überhaupt zu bemerken. Das Gehirn gaukelt uns kontinuierliches Sehen vor, obwohl unsere Wahrnehmung in Wirklichkeit kurz pausierte. Von einem Zwölf-Stunden-Tag fehlen uns also zusammengerechnet etwa 90 Minuten!
Wenn Sie den Versuch mit der Selfie-Kamera ihres Handys wiederholen, dann können Sie die Augenbewegung sehen. Denn anders als beim Spiegel braucht das Smartphone Bruchteile von Sekunden, bis das soeben von der Kamera aufgenommene Bild von Ihnen auf dem Bildschirm angezeigt wird.
In dieser Zeit ist die Sakkade, die kurzzeitige Blindheit, schon vorbei, sodass Sie die Augenbewegung, die Ihnen das Gehirn vor dem Spiegel „unterschlagen“ hat, nun sehen können
.
Nota. - Mit andern Worten: Das Gehirn wechselt, ohne von jemandem darum gebeten worden zu sein, aus dem analogen in den digitalen Modus - geht aus der Anschauung zur Reflexion über. Präziser gesagt: aus dem sinnlichen Sehen eines Bildes zum intellektiven Überlegen. Der erst Schritt dahin ist das Zerlegen eines Szene in Einzelteile - digits - , aus denen sie zusammengesetzt erscheint. Der zweite Schritt: die einzelnen Teile wieder in eine ganze Gestalt fügen, in der das Verhältnis der Teile zueinander als deren Bedeutung aufge-fasst wird. Das Zerlegen ist ein rein mechanischer Akt, in dem sich das Subjekt erst noch als leidend - wiedergebend - verhält; während es im Wiederzusammensetzen tätig wird: Es ist diese Tätigkeit, die als sinngebend erfahren und zu einer Vorstellung wird.
Diese Tätigkeit wiederum kann er anschauen, weil er sie selbst ausführt - er erkennt darin die Absicht wieder, in der sie geschah.
Das ist das ganze Geheimnis der Symbolisierung. Ihre sachliche Bedingung ist der digitale Modus: die flüchtige Erscheinung in Einzelteile zerhäckseln, die zur Ruhe gebracht wurden, indem sie durch ein Zeichen identifiziert sind.
*
Das ist die geistige - logische - Repräsentation einer Handlungskette, die doch als in Raum und Zeit wirklich geschehen vorgestellt wird. Durch obige Untersuchung ist immerhin der erste Schritt in dieser Kette physiologisch dargestellt: das Zersetzen einer lebendigen Er-scheinung in stehende Bilder. Der zweite Schritt wäre, die Eintragung der angeschauten Absicht in das Zeichen physiologisch zu beschreiben.
Bleibt also das Kern problem: die Bedeutung im Stoff zu verorten.
Eine Absicht fassen - das, was tierische Intelligenz und menschlichen Geist unterscheidet - dürfte eine Leistung des Gehirns als Ganzes sein; ein systemischer Prozess sich verallgemeinernder Wechselwirkung, wo nicht diese oder jene Hirnregion beschäftigt ist und wo keine Ursache und keine Wirkung mehr zu identifizieren ist (vorher/nachher) und nur noch Zustände emergieren. Es ist anzunehmen, dass die empirische Hirnforschung hier ihr Ende findet.
Ohne Absicht hat ein Gehirn nichts, worauf es reflektieren kann.* Das Absehen auf... ist Anfang und Ende der Vernunft.
Geist = Absicht, sagte Friedrich Schlegel.
*) Auf bloße Fakten lässt sich nicht reflektieren - sie sind blind und stumm; genauso wenig lässt sich auf bloße Bedeutungen reflektieren; die sind nicht von dieser Welt. Reflektieren lässt sich auf Fakten, die einer Bedeutung unterzogen wurden.
JE
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