Montag, 1. Mai 2023

Zweck der Vernunft ist Vergesellschaftung.

 Doisneau                    aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Das / vernünftige Wesen kann sich nicht setzen als ein solches, es geschehe denn auf das-selbe eine Aufforderung zum freien Handeln. ... Geschieht aber eine solche Aufforderung zum Handeln auf dasselbe, so muss es notwendig ein vernünftiges Wesen außer sich set-zen als die Ursache derselben, also überhaupt ein vernünftiges Wesen außer sich setzen. ...

Der Mensch (so alle endlichen Wesen überhaupt) wird nur unter Menschen ein Mensch; und da er nichts anderes sein kann denn ein Mensch, und gar nicht sein würde, wenn er dies nicht wäre - sollen überhaupt Menschen sein, so müssen es mehrere sein.  

Dies ist nicht eine willkürlich angenommene, auf die bisherigen Erfahrungen oder auf andere Wahrscheinlichkeitsgründe aufgebaute Meinung, sondern es ist eine aus dem Be-griff des Menschen streng zu erweisende Wahrheit. Sobald man diesen Begriff vollkom-men bestimmt, wird man von dem Denken eines Einzelnen aus getrieben zur Annahme eines zweiten, um den ersten erklären zu können. Der Begriff des Menschen ist sonach gar nicht Begriff eines Einzelnen, sondern der einer Gattung.
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J. G. Fichte, Grundlage der Naturrechts..., SW III, S. 38f.



Nota I. - 
Die Zirkularität der Argumentation ist nicht zu übersehen. Der Begriff des ver-nünftigen Wesens muss (vorläufig) den Begriff des Menschen erklären, und der Begriff des Menschen muss das vernünftige Wesen erklären. 

Aber es handelt sich ja nicht um eine logische Konstruktion ex nihilo, von Definition zu Definition. Der Ausgangspunkt ist immer: Es gibt ja wirklich Menschen, und jenes Beson-dere an ihnen, das sie wirklich von andern Lebewesen unterscheidet, wollen wir (einstwei-len) als Vernunft bezeichnen. Es ist ein genetisches Verfahren, kein logisches (dann wäre es tauto logisch). Der Ausgangspunkt sind Vorstellungen, die wir wirklich haben, und die auf ihre Voraussetzungen und Implikationen untersucht werden. Und da kann tatsächlich nur das eine das andere erklären und das andere das eine. Näher kommt man dem, was wirklich da ist, nicht.
19. 10. 14

 
Nota II. - Die Stelle steht nicht in einer philosophischen Darstellung der Wissenschaftsleh-re, sondern in einer Abhandlung über das Naturrecht "nach Prinzipien der...". Sie entwickelt das Argument nicht selber, sondern referiert es bloß.

In der explizit genetischen Herleitung - WL nova methodo - wird in abstracto aus der freien Handlung, durch die ein Ich 'sich setzt', indem es sich ein/em NichtIch entgegensetzt, re-konstruiert, wie jenes Ich Schritt für Schritt auf dem Weg der Vernunft fortschreitet. Es soll bis an den Punkt gelangen, wo es in sich und wir in ihm ein wirkliches Ich erkennen kann: nämlich eines, das zur Vernunft nicht erst bestimmt, sondern bereits gelangt ist. 'Die Ver-nunft' als Vermögen oder die intelligible Welt als Topos existiert in der Wirklichkeit als das Setzen allgemeingültiger Zwecke. Allgemein gültig heißt gültig in der Reihe vernünftiger Wesen. Das Ich erkennt sich als ein vernünftiges, indem es die Aufforderung aus der ver-nünftigen Gesellschaft vernimmt und sich handelnd als Teil einer Reihe findet. -

Wir wissen, dass die Wissenschaftslehre als Vernunftkritik begonnen hat. Die historische Realität der Vernunft ist ihr Ausgangspunkt, zu dem sie in ihrer Arbeit der kritischen Re-konstruktion zurückfinden muss. Das ist der Zirkel, der in obiger Stelle aufscheint: Die Vernunft muss - und kann allein - sich selbst begründen. Ihr Sinn ist Vergesellschaftung. So war es am historischen Ausgangspunt der Kritik und anders kann es nicht sein am rekon-struierten Schlusspunkt der Wissenschaftslehre. 

Dass der Sinn der Vernunft Vergesellschaftung ist, ist ihr Qualificandum. Es steht zu nichts im Verhältnis und ist selber ohne Form. Es wurde durch die kritische Analyse aus der Reihe der Bdingungen ausgesondert und ihr qua reines Ich zu Grunde gelegt. Dass es in den kom-plementären formalen Verfahren der kritischen Analyse und der rekonstruktiven Synthese nicht auftaucht, hat seinen methodologischen Grund. Und dass Fichtes Einführung der 'Aufforderung durch die Reihe vernünftiger Wesen' auf den ersten Blick als gewaltsam auf-gefasst werden kann, ist verständlich. Sie ist das eigentliche Geheimnis der analytisch-syn-thetischen Methode.  
JE 15. 8. 21, 

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