Montag, 29. Mai 2023

Vorstellen ist anschauen 'als ob'.

 St. Peter in Straubing                                        zu Philosophierungen, oder Das Vernunftsystem

Bei der Erinnerung ist es einfach: Ich habe was einmal angeschaut, und in meinem Ge-dächtnis wiederhole ich es so, als ob es eben jetzt geschähe.

Aber ich kann mir manche Sachen vorstellen, die nie zu sehen waren und sich womöglich nie ereignet haben. Dann 'mache ich mir ein Bild' und 'bilde mir etwas ein'. Das kann ich, das kann jeder, und kann mir keiner bestreiten. Aber dieses Bild habe ich ipso facto ge-danklich in das Kontinuum von Raum und Zeit eingesetzt, in dem sie hätten erscheinen müssen, wenn ich sie wirklich anschauen konnte. Das, und nichts anderes, ist der Unter-schied zwischen Einbildung und Wirklichkeit, oder sagen wir genauer: zwischen Mögli-chem und Unmöglichen.

Wie ist es mit den Begriffen? Ein Begriff ist ein bestimmtes Bild: nicht bloß anschaubar, sondern mit einem Zeichen versehen, das es von allen andern unterscheidet und als dieses eine ausweist. Man kann es im Gedächtnis unter manchen gleichartigen Begriffen so ein-ordnen, dass mich der eine an die andern weiterweist und ich in der Regel  alles wiederfin-de, woran ich mich irgendwie erinnere. 

Kann ich sie anschauen als-ob? Wenn ich mein Gedächtnis sehr anstrenge und mich von den dabei unweigerlich auftauchenden andern Bilder nicht ablenken, sondern stattdessen weiterweisen lasse, dann vielleicht. 

Dafür habe ich mir die Mühe des 'Begreifens' aber nicht gemacht, sondern um mir die Arbeit des allfälligen Suchens und Ein-Bildens zu ersparen, indem ich die Zeichen so ver-wende, als ob mir die dazugehörige Anschauung jedesmal vor Augen stünde. Das darf ich, weil ich weiß, dass das Ensemble aller meiner Begriffe und dazugehörigen Vorstellun-gen nicht bloß mein Privatbesitz sind, sondern Bestandteil einer umfassender Gesamtheit, eines Systems von sinnhaften Bezügen von Zeichen und Bildern sind, das vorangegange-ne Generationen über Jahrtausende angeschatzt, aktualisiert und uns überliefert hat. Wir alle, die wir uns einander durch Vernunft verbunden wissen, bedienen uns seiner mit Er-folg - und wo immer Unstimmigkeiten auftreten, versuchen wir, sie mit- und auch mal gegeneinander zu überwinden.

Das ist so banal, dass man es kaum aussprechen mag. 

Nein - das ist es eben nicht; sondern ein Wette, die Tag für Tag tausendmal individuell verlorengeht und die Gattung doch unterm Strich tagtäglich Schritt für Schritt voran-bringt. Eigentlich ist es kühn, dass wir uns beinahe blind und höchstens mit gelegent-lichem Brauchgrimmen auf so ein Risiko einlassen. Die Jungen tun es ganz unbefangen, erst die Älteren zucken resigniert mit den Achseln, doch je älter sie werden, desto weniger werden sie auch. 

Als ob wir tragische Helden wären.


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