Montag, 22. Mai 2023

Ein erster, schlechthin unbedingter Grundsatz (II).

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§ 1.
 Erster, schlechthin unbedingter Grundsatz.


Wir haben den absolut-ersten, schlechthin unbedingten Grundsatz alles menschlichen Wissens aufzusuchen.

Beweisen oder bestimmen lässt er sich nicht, wenn er absolut-erster Grundsatz seyn soll. Er soll diejenige Thathandlung ausdrücken, welche unter den empirischen Bestim-mungen unseres Bewusstseyns nicht vorkommt, noch vorkommen kann, sondern viel-mehr allem Bewusstseyn zum Grunde liegt, und allein es möglich macht. Bei Darstellung dieser Thathandlung ist weniger zu befürchten, dass man sich in etwa dabei dasjenige nicht denken werde, was man sich zu denken hat – dafür ist durch die Natur unseres Geistes schon gesorgt – als dass man sich dabei denken werde, was man nicht zu denken hat. Dies macht eine Reflexion über dasjenige, was man etwa zunächst dafür halten könnte, und eine Abstraction von allem, was nicht wirklich dazu gehört, nothwendig. 

Selbst vermittelst dieser abstrahirenden Reflexion nicht – kann Thatsache des Bewusst-seyns werden, was an sich keine / ist; aber es wird durch sie erkannt, dass man jene That-handlung, als Grundlage alles Bewusstseyns, nothwendig denken müsse. ... 

Die Gesetze, nach denen man jene Thathandlung sich als Grundlage des menschlichen Wissens schlechterdings denken muss, oder – welches das gleiche ist – die Regeln, nach welchen jene Reflexion angestellt wird, sind noch nicht als gültig erwiesen, sondern sie werden stillschweigend, als bekannt und ausge-macht, vorausgesetzt. Erst tiefer unten werden sie von dem Grundsatze, dessen Aufstellung bloss unter Bedingung ihrer Richtig-keit richtig ist, abgeleitet. Dies ist ein Cirkel; aber es ist ein unvermeidlicher Cirkel.
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J. G. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, SW Bd. I, S. 91f.
 

Nota. - Wenn es aber zirkulär ist, dann ist es kein Wissen. Wenn am oberen Ende genau-soviel steht wie am unteren, dann ist nichts hinzukommen - und das Wissen folglich leer.

Dies, wenn die Wissenschaftslehre eine logische Herleitung aus gegebenen Begriffen wäre - so wie die metaphysischen Systeme vor Kant. Die Wissenschaftslehre ist dagegen ein retroaktives Postulat. Sie ist keine Konstruktion der Wirklichkeit aus Prämissen, sondern eine eine experimentelle Untersuchung des Gangs unserer Vorstellungstätigkeit. Es wird der Untersuchung eine problematische Behauptung zu Grunde gelegt - und nur, wenn nach Abschluss der Untersuchung nicht mehr und nicht weniger und schon gar nichts anderes steht als am Anfang; nur, wenn nichts hinzugekommen und der Zirkel lückenlos geschlossen ist, hat sich die problematische Eingangsbehauptung bewährt.

Was immer es tut: Das Ich 'setzt sich', indem es sich ein/em Nichtich entgegensetzt - und zwar immer fort. Alle Tätigkeit des Ich ist Fortschreiten in der Bestimmung von Unbe-stimmtem. Von nicht anderem kann es wissen. Das ist - zusammenfassend - leicht gesagt. Doch um es einzusehen, war die hirnbrechende Ochsentour der Wissenschaftslehre un-umgänglich. Der sachliche Gehalt der realen Wissenschaften wird davon um keinen Deut erweitert. Aber sie können nun ihres Wissens gewiss sein - 
wenn anders Wissen über-haupt möglich sein soll.

Die Frage Was ist Wissen? - oder: Was ist wahr? - formuliert Fichte um in: Wie kommen wir zu der Annahme, dass einigen unserer Vorstellungen Dinge außerhalb unserer Vor-stellungen entsprechen? Das ist der prosaische Kern, der in der pompösen Frage nach der Wahrheit drinsteckt. 
29. 7. 18

Nota II. - Das ist nun nicht das Verfahren, das im gestrigen Eintrag als das angemessene vorgestellt wurde: Statt dass ein problematisches Postulat an der Durchführung des Sys-tems geprüft wurde, wird ein Behauptung dogmatisch zu Grunde gelegt, die als schlecht-hin unbedingt zu glauben ist - denn bei den weiteren Ausführungen handelt es sich ledig-lich um Erläuterungen, die man erwägen, aber auch pauschal von der Hand weisen kann.

Die oben zitierte Grundlage war die erste und blieb die einzige Gesamtdarstellung der Wissenschaftslehre, die Fichte niedergeschrieben hat. Doch unter prekären Umständen: Eine Vorlesung wurde an den Universitäten wörtlich aufgefasst. Den Professoren war vorgeschrieben, anhand welcher Lehrbücher sie ihre sie ihre Darlegungen vorzutragen hatten, und daraus lasen sie vor, weil die Lehrbücher unerschwinglich teuer und in den Universitätsbibliotheken kaum einzusehen waren. Dazu machten sie - wie z. B. Kant reichlich - eigene Ausführungen.

Für die gänzlich neue Wissenschaftslehre gab es noch kein Lehrbuch, und so ließ Fichte die einzelnen Lektionen Woche für Woche als Manuskript drucken und den Studenten zum Mitlesen verteilen. Dass einer solchen Darstellung, die ihren eigenen Abschluss erst vage vorahnen konnte, an Überzeugungskraft fehlen müsse, sei ihm schon bald aufgefal-len, sagt er später, und dachte schon während der ersten Vorlesungsreihe an eine gänzlich überarbeitete Vortragsweise. Im Philosophischen Journal erschienen einige Einleitungs-versuche, doch systematisch hat Fichte die neue Darstellung erst mit der Vorlesungsrei-he nova methodo durchgeführt.

Der formal wichtigste Unterschied ist, dass das Eingangspostulat nicht scheinbar aus der Luft gegriffen wird - tatsächlich hatte F. es in der Schrift  Über den Begriff der Wissen-schaftslehre vorbereitet -, sondern wird dargestellt als aufgefunden als Folge der Kant-schen Vernunftkritik: freigelegt unter allen wirklich-zufälligen Bestimmungen der histo-risch gewordenen Vernunft als die reine, unbestimmte und sich selbst bestimmende prä-dikative Qualität.

Der sachlich entscheidende Unterschied ist, dass F. erkannt hat, dass er das sich-selbst-Bestimmen der unbestimmten prädikativen Qualität nicht darstellen kann in den Begrif-fen und Schlussregeln, über die erst die ausgebildeten Vernunft (Newton et. al.) verfügen konnte, sondern in den anschaulichen Bildern, in der lebendiges Vorstellen wirklich ge-schieht. Man muss sich zu metaphorischem Ausdruck bescheiden, zu dessen Verständnis niemanden nötigen kann. Die Wissenschaftslehre bleibt von vorn bis hinten auf den frei-en Willen angewiesen (während die Grundlage ein Cirkel ist, dem keiner entkommen kann, der sich unvorsichtig einmal darauf eingelassen hat).
JE 25. 9. 22


Nota. Das obige Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE  

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Bestimmt, unbestimmt, bestimmbar; setzen, abstrahieren.

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