aus Süddeutsche.de, 19. 9. 2022 zu Philosophierungen
Filigranes Denken
Saul Kripke ist tot. Er begann als Wunderkind und beeinflusste später die analytische Philosophie so grundstürzend wie kein anderer Denker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
"Saul Kripke ist möglicherweise der einzige lebende Philosoph, der die Welt der Philoso-phie mit unorthodoxen Arbeiten auf Gebieten wie Zeit, Materialismus und Emotionen erschüttern kann." Der Satz stammt aus einem Porträt Kripkes, das die New York Times 1977 veröffentlichte. Zu dem Zeitpunkt galt der 1940 in Bay Shore geborene amerikanische Philosoph unter Kollegen längst als Genie. Mit 18 Jahren veröffentlichte er einen ersten hochkomplexen Aufsatz zu einem Problem der Modallogik, in dessen direkter Folge kaum ein ernst zu nehmender Logiker nicht in der ersten Fußnote schreiben musste: "Ich verdanke Hinweise und Korrekturen Saul Aaron Kripke." Da hatte der junge Mann noch keinen Abschluss.
Kripke blieb kein Wunderknabe, sondern entwickelte sich zu einem Gelehrten, der mit seinen Aufsätzen die analytische Philosophie beeinflusste wie wohl niemand sonst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als er mit 33 Jahren die renommierten John Locke Lectures in Oxford hielt und vier Jahre später einen Lehrstuhl an der Princeton University hielt, war er bereits eine lebende Legende.
Kant und der Phänomenologie unterstellte er einen folgenschweren Denkfehler
In Deutschland war es der Münchner Philosoph Wolfgang Stegmüller, der sehr früh die Bedeutung von Kripkes Analysen erkannte. In seinem vierbändigen Standardwerk "Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie" kam er gleich mehrfach auf Kripke zu sprechen. Dabei stellte Stegmüller nicht den philosophischen "Techniker" Kripke den deutschen Lesern vor, sondern den Kenner und Kritiker der philosophischen Tradition.
Es war Immanuel Kant und mehr noch die Phänomenologie, denen Kripke einen folgenschweren Fehler unterstellte: Sie hätten ihre Überlegungen auf einer Verwechslung von Apriorität und Notwendigkeit aufgebaut. Erstere gehöre zur Erkenntnistheorie, Letztere sei ein Begriff aus der Metaphysik und damit auch ein Fall für diese. Das hatte weitreichende Folgen, denn damit gerieten auch die Erfahrungswissenschaften in Nöte. In Kripkes Worten: "Da die empirischen Wissenschaften keine apriorischen Erkenntnisse (also Erkenntnisse, die vor aller Erfahrung gültig sind) zu gewinnen trachten, können sie, falls notwendige Wahrheiten mit Wahrheiten a priori gleichzusetzen sind, auch keine Wesenserkenntnisse liefern."
Was daran haften blieb, war die argumentationslogische Dreistigkeit, mit der Kripke vorging. Aber Kant und die Phänomenologen, die Sprachphilosophen und die Empiriker waren nicht die Einzigen, die sich nach Kripke-Interventionen erst einmal sortieren mussten. Nicht minder schwer traf es die immer größer werdende Gemeinde der Wittgenstein-Anhänger. Dessen Spätwerk widmete Kripke 1982 eine grundstürzende Deutung.
Aus den "Philosophischen Untersuchungen" Wittgensteins löste Kripke das heraus, was der als "Regelfolgen" bezeichnet hatte: Regeln begründen nicht die Praxis, sondern an Regeln ausgerichtetes Verhalten ist immer schon durch die Praxis bestimmt. Seit Jahrzehnten wird höchst filigran darüber diskutiert, wie Kripke, der lediglich den ersten Satz des als Revolution betrachteten Paragraphen 201 der "Philosophischen Untersuchungen" ("eine Regel könnte keine Handlungsweise bestimmen, da jede Handlungsweise mit der Regel in Übereinstimmung zu bringen sei") mit einem weiteren dramatischen Satz aus Paragraph 243 zusammenfügte ("Ein Mensch kann sich selbst ermutigen, sich selbst befehlen, gehorchen, tadeln, bestrafen, eine Frage vorlegen und auf sie antworten"), dies wohl genau meinte. Inzwischen haben sich längst ästhetische und ethische Diskussionen angeschlossen, die Kripkes vermeintlichen Eskapismus auflösen und ihn auf die Frage nach dem Wesen des Menschen zurückführen.
Die Einschätzung der New York Times führte zu einer großen und bis heute andauernden Debatte. Die Philosophie hatte in den USA mit Werken wie John Rawls' "Theorie der Gerechtigkeit" (1971) und Robert Nozicks "Anarchie, Staat, Utopia" (1974) erfolgreich die Abkehr von einer apolitischen analytischen Philosophie vollzogen, da kam Kripke und stieß sie scheinbar zurück in die Niederungen einer mathematisierten Abstraktheit, die zwar alle "möglichen Welten" kannte, aber darüber hinaus nichts zu sagen hatte.
Kripke selbst ließen solche Fragen völlig unberührt. Er veröffentlichte weiterhin Aufsätze, die ob ihrer Stringenz, ihrer ebenso freien wie präzisen Rückführung auf die philosophische Tradition und ihrer Innovationskraft ihresgleichen suchen. Bei Suhrkamp und Reclam pflegt man das Werk nicht zuletzt dank eindrücklicher Übersetzer wie Ursula Wolf und Uwe Voigt. Nun ist Saul Aaron Kripke, einer der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, am 15. September im Alter von 81 Jahren gestorben.
Nota. - Seit geraumer Zeit halte ich die Augen offen, ob ich von Seiten der Analytischen oder, wie sie sich inzwischen vorzugsweise nennen, Systematischen Philosophen irgend-was finde, das auch innerhalb meines eigenen Horizonts bedenkenswert wäre.
Die sogenannten Kontinentalen fördern ja nur - da haben sie nicht Unrecht - ab und zu mal eine Perle zutage, die Staunen erregt, doch dass die zu tieferem Nachdenken Anlass geben, ist selten. Wenn mir nun ein Denker vorgestellt wird als einer, der wie wohl keiner die analytische Philosophie des vorigen Jahrhunderts beeinflusst hätte, und das sogar grundstürzend, muss ich wohl aufhorchen. Vor allem nämlich: Anders als andere 'Syste-matiker' lässt er die philosophische Überlieferung nicht einfach links liegen, sondern setzt sich ausdrücklich mit Kant auseinander, an dem er eine kardinalen Fehler findet. Er und die Husserl'sche Phänomenologie hätten ihre Überlegungen auf einer Verwechslung von Apriorität und Notwendigkeit aufgebaut. "Da die empirischen Wissenschaften keine apri-orischen Erkenntnisse (also Erkenntnisse, die vor aller Erfahrung gültig sind) zu gewin-nen trachten, können sie, falls notwendige Wahrheiten mit Wahrheiten a priori gleichzu-setzen sind, auch keine Wesenserkenntnisse liefern", wird er zitiert.
Wesenserkenntnisse von was?
Von dem, was Gegenstand möglicher Erfahrung in Raum und Zeit ist, handeln die reellen Wissenschaften; darum heißen sie so. Was also das Ding an sich sein könnte, ist ihre Sache nicht. Was sonst möchte aber deren Wesen sein? Etwas schlechterdings Unerfahr-bares. Gegenstand daher der Philosophie?
Was in Raum und Zeit ist, geschieht oder vorfällt, ist nicht Sache der Philosophie. Die hat zu tun nur mit dem, was vor den Erfahrungen liegen mag; worauf eine Erfahrung grün-den kann. Das heißt bei Kant das Apriori. Ist es 'Wesen'? Aber doch nicht des zu-Erfah-renden, sondern des Erfahrens selbst! Es ist das, was der erfahren-Wollende von sich aus in das Erfahren hineinsteckt. 'Intentio' sagte Husserl, aber deren Terminus ad quem ortete er absurderweise nicht im Intendierenden, sondern in einem mysteriösen A quo.
Verständlich ist, dass Kripke Kant und Husserl zusammentut. Denn sein Vordenker Wittgenstein ist ein logischer Atomist wie... Husserl dann schließlich doch nicht sein wollte, und als er merkte, dass er sich geradewegs auf Platos Ideen-Lehre zubewegte, machte er Halt und versuchte in der Krisis der europäischen Wissenschaften (1936) einen neuen Anfang. Da war aber Kripke wohl schon abgesprungen.
Ein Wesen kann die Philosophie nicht von Dingen und Sachverhalten erkennen wollen, sondern lediglich im Wissen von ihnen. Dessen Wesen ist das Wissenwollen von einem, der handeln muss.
Das ist der Kernsatz der Transzendentalphilosophie, den der grundstürzende Kripke nicht verstanden hat.
JE
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