Samstag, 19. August 2023

Die pragmatische Wiederherstellung der kritischen Methode.

telegraph                                                                                                    aus Marxiana

Begriffe ohne Anschauung sind leer, hatte Kant den rationalistischen Dogmatikern seiner Zeit, zu denen er eben noch selbst gehört hatte, hinter die Ohren geschrieben. Begriffe werden nicht ergriffen, sondern vom reflektierenden Verstand aus Anschauungen ge-macht. Das sollte als Die Kopernikanische Wende der Philosophie in die Lehrbücher eingehen. Doch Kant war noch keine zehn Jahre tot, da geisterte der Begriff schon wie-der als sich selbst bewegendes Subjekt/Objekt durch die Metaphysik.

Dazwischen lag eine wahrhaftige Konterrevolution im Denken. Der Begriff erhebt sich als Absoluter Geist über alle Realität und verleibt sich selbst noch die Iche ein, die Ge-schichte, die ganze Welt ist nichts als die Parusie des Begriffs, eine zyklische Bewegung, in der er, durch die Endlichkeit hindurch, am Ende doch wieder zu sich zurückkehrt.

In der Gestalt des Hegel'schen Systems kehrte der dogmatische Rationalismus - mit my-stizistischen Strähnchen, das ist wahr - für drei Jahrzehnte zur Herrschaft zurück und vermochte selbst die literarische Erinnerung an die Kritische, die Transzendentalphilo-sophie zu tilgen.

Dem hat das Aufkommen der Hegel'schen Linken im deutschen Vormärz nicht wirklich Abhilfe geschaffen. Die Hegel'sche Schule war im wilden Bacchanal der Kritischen Kri-tik zerfallen, das war alles. An eine Rückkehr zum weiland mutwillig abgerissenen trans-zendentalen Ansatz dachte von den Philosophen keiner.

Nicht als Philosoph hat Marx die Hegel'sche Mystifikation überwunden, sondern als Hi-storiker und Kritiker der Politischen Ökonomie. Sein wissenschaftliches Lebensthema war ihm von Engels in den Umrissen zu einer Kritik der Nationalökonomie vorgegeben wor-den, und lange glaubte er, das lückenhafte Klassische System der Politischen Ökonomie nach Hegels dialektischer Methode vervollständigen zu sollen. Und da fand sich, dass nicht die Begriffe sich bewegen, sondern die wirklichen historischen Subjekte. Unter großen Mühen kam er schließlich dazu, den Begriff auf sein kritisch gebotenes Maß zu-rückzuführen: als kritisches Instrument in der Hand des analysierenden Historikers. Des-sen bestimmte Aufgabe ist gerade, die Stellen ausfindig zu machen, die von den Begrif-fen nicht 'erfasst' werden, und an denen der historische Bericht die Lücke füllen muss: Nicht der Wertbegriff begründet das Kapital, sondern die Vertreibung des Landvolks vom Boden begründet das Wertgesetz.

Marx hat Fichte nicht gelesen, das lässt sich (fast) schlüssig dokumentieren und bei Ge-legenheit werde ich das tun; die Dialektik in ihrer ursprünglichen, kritischen und ratio-nellen Gestalt in Form des Fichte'schen analytisch-synthetischen Verfahrens hat er nicht gekannt. Er hat auch nicht mit metatheoretischen Spekulationen über die richtige Metho-de begonnen, sondern mit der Analyse selbst, und musste die gebotene kritische Wendung auf denkpragmatischem Weg an der Stelle einführen, wo sie unvermeidlich wurde.

Nicht der Begriff 'schlägt um', sondern ein Begreifender wechselt den Gesichtspunkt, das ist das ganze Geheimnis der pp. Dialektik.

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Ich richte meine Aufmerksamkeit auf den Zustand der Ruhe, in dieser Ruhe wird das, was eigentlich ein Tätiges ist, ein Gesetztes; es bleibt keine Tätigkeit mehr, sondern ein Pro-dukt, aber nicht etwa ein anderes Produkt als die Tätigkeit selbst, kein Stoff, kein Ding, welches vor dem Vorstellen des Ich vorherging; sondern bloß das Handeln wird dadurch, dass es angeschaut wird, fixiert; so etwas heißt ein Begriff, im Gegensatz der Anschauung, welche auf die Tätigkeit als solche geht.
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J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 32f. 


Man nennt die innere Thätigkeit, in ihrer Ruhe aufgefasst, durchgängig den Begriff...Der Begriff ist überall nichts anderes, als die Thätigkeit des Anschauens selbst, nur nicht als Agilität, sondern als Ruhe und Bestimmtheit aufgefasst. ...

Im gemeinen Bewusstseyn kommen nur Begriffe vor, keinesweges Anschauungen als solche; unerachtet der Begriff nur durch die Anschauung, jedoch ohne unser Bewusst-seyn, zu Stande gebracht wird. Zum Bewusstseyn der Anschauung erhebt man sich nur durch Freiheit, wie es soeben in Absicht des Ich geschehen ist; und jede Anschauung mit Bewusstseyn bezieht sich auf einen Begriff, der der Freiheit die Richtung andeutet. Daher kommt es, dass überhaupt, so wie in unserem besonderen Falle, das Object der Anschau-ung / vor der Anschauung vorher daseyn soll. Dieses Objekt ist eben der Begriff. Nach unserer gegenwärtigen Erörterung sieht man, dass dieser nichts anderes sey, als die An-schauung selbst, nur nicht als solche, als Thätigkeit, sondern als Ruhe aufgefasst. 
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ders., Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre,[1797] SW I, S. 533f.


Begreifen heißt, ein Denken an ein anderes anknüpfen, das erstere vermittelst des letzteren denken. Wo eine solche Vermittlung möglich ist, da ist nicht Freiheit, sondern Mecha-nismus. 
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ders., Das System der Sittenlehre nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, SW IV, S. 182
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Derlei Reflexionen finden sich bei Marx nicht. Er bleibt eng an seinem Gegenstand, nur nebenher spottet er über das statische Denken der Begriffshuber.* Es geht aber um die Methode, die er an seinem Gegenstand tatsächlich entwickelt, und nicht um das, was er darüber sagt. 


*) s. Randglossen zu A. Wagners "Lehrbuch der politischen Ökonomie", MEW 19, S. 373
 
30. 8. 15 



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