Donnerstag, 3. August 2023

Das Objekt ist zuerst ein bloß Vorschwebendes ohne Beziehung auf mich.

                          aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Ich finde mich beschränkt im Gefühle, aber ich kann nicht fühlen, ohne anzuschauen, und unmittelbar für die Anschauung ist das Objekt da. Hinterher kommen dergleichen Bestimmungen vor, dass das Objekt betrachtet wird als etwas auf uns Einfließendes; aber diese Bestimmungen kommen erst vor, wenn das Objekt schon da ist. 

Das Etwas, welches dem Anschauenden vorschwebt, ist hier weder Bild noch Dinge, es ist ohne alle Beziehung auf uns. Weder Bild noch Dinge, sondern beides, es wird nachher in beide geschieden, es ist der Urstoff für beide, das unbegreifliche Etwas ohne Beziehung auf uns. Auch im gemeinen Bewusstsein behaupten wir, dass die Dinge unmittelbar da sind. 

Wir können hier die Anschauung noch nicht weiter charakterisieren, als dass sie sei etwas dem Ich Vorschwebendes und insofern NichtIch, wenn es nämlich auf das Anschauen-de bezogen werden könnte, nicht aber auf das ganze Ich, dass sie sei etwas positiv Halten-des, dass ihr der Charakter des Seins zukomme, indem sie die gesamte Tätigkeit des Ich zur idealen macht.

Das Objekt wird nicht gefühlt, es ist bloß, indem ich anschauend bin, und im Anschauen fühle ich mich.
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J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 83f.  



Nota. - Da fällt mir zweierlei ein: zuerst Schillers ästhetischer Zustand, und dann, dass seit Plato das Staunen als Anfang der Philosophie gilt.
19. 9. 16


Nota II. - Die Wissenschaftslehre zeichnet ein transzendentales Schema, wie die Vernunft in die Welt gekommen ist. Sie erzählt nicht die Geschichte, wie heutigen Tags in einem Individuum die Vernunft entsteht. Das wäre Psychologie.

Empirisch gesprochen wäre es falsch zu sagen, dass das 'zuerst' bloß vorschwebende Objekt noch "ohne Beziehung auf mich" ist. Das empirische - historische, sagt Fichte - Individuum kommt von vornherein in eine Welt, die als Ganze und deren Bestandteile jeder für sich schon bestimmt sind. Die Bestimnungen im einzelnen wird der Neuwelt-bürger selber vornehmen oder auch "nachvollziehen" müssen; dass da aber eine Bestim-mung schon ist, gilt dem sich bildenden Bewusstsein a prioriDaher ja die 'natürliche' Annahme des gesunden Menschenverstands, dass die Welt und ihre Dinge "an sich" be-stimmt wären!

Und nur darum ist ein transzendentales Schema überhaupt nötig (und möglich): weil einsichtig gemacht werden soll, dass und wie die Welt nicht an-sich-bestimmt, sondern Schritt für Schritt im selben Maße bestimmt worden sind, wie 'das Ich' - die Ichheit - sich selbst bestimmt hat. Das ist keine Nacherzählung einer Geschichte, die sich so zugetra-gen hat, sondern eine Sinnbehauptung: dass Welt und Ich heute und immer nur durch einander möglich sind.
JE,
26. 12. 19

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