Wenn ich jetzt (zum Beispiel) völlig frei und ohne den nothwendig bestimmenden Einfluß der Naturur-sachen von meinem Stuhle aufstehe, so fängt in dieser Begebenheit sammt deren natürlichen Folgen ins Unendliche eine neue Reihe schlechthin an, obgleich der Zeit nach diese Begebenheit nur die Fortsetzung einer vorhergehenden Reihe ist.
Denn diese Entschließung und That liegt gar nicht in der Abfolge bloßer Naturwirkungen und ist nicht eine bloße Fortsetzung derselben; sondern die bestimmenden Naturursa-chen hören oberhalb derselben in Ansehung dieses Eräugnisses ganz auf, das zwar auf jene folgt, aber daraus nicht erfolgt und daher zwar nicht der Zeit nach, aber doch in An-sehung der Causalität ein schlechthin erster Anfang einer Reihe von Erscheinungen ge-nannt werden muß.
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Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 478 Akademie-Ausgabe: Die Antinomien der reinen Vernunft: Anmerkung zur dritten Antinomie, S. 312
Nota. – Nun wird zu Recht eingewandt: Ab er dass du aus deinen Entschlüssen die 'Na-turwirkungen' überhaupt ausschließen kannst, wird ja gerade bestritten! Was du für deinen freien Willen hältst, ist nichts als die Summe von Eindrücken, die von außen auf dein Ge-müt wirken. – Geht es um eine Frage der Psychologie? Die hat ihre eigenen Verfahren und ihre eigenen Maßstäbe. Philosophisch ist entscheidend: Die äußeren Eindrücke wir-ken nicht unmittelbar bestimmend auf die Handlung, sondern verwandeln sich zuerst in Motive. Der Philosoph sagt: Das Motiv muss ich zuerst zu meinem machen, ehe es mein Handeln bestimmen kann; aber das kann ich ja unterlassen! Kommt sogleich der Einwand: Das ist ein schlechter Zirkel! Mit dem Ich begründest du die Freiheit der Wahl, aber die Freiheit der Wahl brauchst du, um einen Begriff vom Ich überhaupt erst zu be-gründen.
So steht es immer ex aequo; hängt, welche Philosophie man wähle, wirklich davon ab, was man für ein Mensch ist?
Was haben wir für ein Glück, dass an dieser Stelle ganz wider ihre Gewohnheit die experi-mentelle Seelenkunde der Philosophie unter die Arme greift: Im Gehirn entsteht zwi-schen dem Moment, in dem sich das sog. Bereitschaftspotenzial gebildet hat – das wo-möglich restlos durch äußere Eindrücke geprägt war –, und dem Moment, in dem die Entscheidung wirklich fällt, eine Pause von rund einer Fünftelsekunde: Es ist die Zeit, in der das Gehirn zögert und verschiedene Möglichkeiten erwägt. Solange könnte es zu den Anmutungen des 'Bereitschaftspotenzials' nein sagen – und nochmal von vorn anfangen. Und wenn es nichts anderes gäbe – diese Fünftelsekunde ist der empirische Beweis, dass es eine Freiheit der Willensentscheidung gibt. Eine ganz andere Frage ist, ob ein jeder da-von Gebrauch machen will.
JE, 6. 11. 21
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