Freitag, 16. Juni 2023

Vom Kopf auf die Füße.

                    aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete Vernunftkritik

Das Kernstück dieses Blogs ist auf der einen Seite das Herausarbeiten des wesentlich revolutionären Charakters von Fichtes Philosophie, der sie so aktuell macht, als wäre sie eben erst zur Welt gekommen, und auf der andern Seite die Untersuchung, wie ein so radikaler Kopf so weit vom Wege abkommen und eine Lehre vertreten konnte, die von vielen als unzugänglich, von manchen gar als mystisch bezeichnet wird.  

Ich denke, so wie er selbst an Kant die Inkonsequenzen rügte, ist an ihm zu bemängeln, dass er nicht etwa zu weit, sondern am alles entscheidenden Punkt nicht weit genug ge-gangen ist. Er hat nichts in die Wissenschaftslehre aufnehmen wollen, das er nicht vor den Augen seiner Hörer aus erwiesenen Voraussetzungen zwingend hergeleitet hätte. Mit einer Ausnahme: der Vernunft, die ist vor allem Anbeginn schon immer dabei gewesen. Und das war die Stelle, wo er den Dogmatikern in die Falle ging.

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Ich bin mir bewusst, dass ich mit meiner Darstellung noch recht einsam dastehe, und gebe zu, dass man sich mit Fichte auch auf andere Weisen beschäftigen kann. Aber ich muss es so machen.

Denn an Fichte bin ich auf einem ungewöhnlichen Weg gelangt, nämlich durch Marx

In meinen jungen Jahren war es üblich, Marx durch Hegel zu erklären: Er habe jenen "vom Kopf auf die Füße gestellt". Nach Marxens eigener (unrichtigen)* Auffassung hätte Hegel aus zwei Teilen bestanden, dem Fichte'schen Subjekt und der spinozischen Sub-stanz. Beim bloßen Vom-Kopf-auf-die-Füße würde sich daran nichts ändern, allenfalls würden die Seiten verkehrt. Die 'Substanz' gehörte aber ganz ausgeschieden, wenn Marx, wie er doch wollte, ein revolutionärer Denker war. Sie ist der Nistplatz aller Mystifikatio-nen und aller Reaktion. Und, was wissenschaftlich erheblicher ist, sie verhindert jedes Verständnis der Kritik der Politischen Ökonomie!

Die Kritik der Politischen Ökonomie verfährt wie alle Kritische Philosophie. Sie über-prüft die überkommenen Begriffe auf ihre Herkunft und Tragfähigkeit, und was sich nicht bewährt, wird verworfen: An den verselbständigten Kategorien wird gezeigt, dass und wie in ihnen absichtsvoll handelnde historische Subjekte verborgen sind. Dies ist die positive Ansicht der Kritik: Sie zeigt die Menschen tätig, wo die Apologetik zeitlose Form behauptet.

Als Weihrauch der ominösen Substanz dient die mystifizierte, weil schematisierte und automatisierte Dialektik. Sie ist das Perfideste an Hegels zusammengestohlenen Galima-thias. Die analytisch-synthetische Methode ist bei Fichte das Werkzeug in der Hand des Kritikers, mit dem er die verdinglichten Begriffe auseinandernimmt und die ihnen zu-grundeliegenden Vorstellungen kenntlich macht. Bei Hegel ist sie "Selbstbewegung des Begriffs", die ohne tätiges Subjekt auskommt: Was als Subjekt erscheint, ist lediglich Agens der sich entfaltenden (und wieder zusammenfaltenden) Substanz. - Und in dieser Form konnte sie, als es soweit war, sich zum allbereiten Arkanum in Stalins "Dialekti-schem Materialismus" fügen.

Nach all dem angehäuften Unrat wird die Wissenschaftslehre heute wieder zum Reini-gungsmittel des theoretisierenden Verstandes, "indem sie den Menschen auf seine eigenen Füße stellt"; auf die Füße, ja.

*) Diese Beschreibung träfe auf den jüngeren Schellings zu. Sie stammt auch nicht von Marx selbst, sondern von Moses Hess, dessen Kenntnisse lückenhaft waren. Marx hat sie später nie wieder aufgegriffen.
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