Donnerstag, 22. Juni 2023

Anschauung, Begriff und Aktualität der Kritik.

 Magnus Enckell                                                                  aus Philosophierungen

Den sinnlichen Anteil an der Anschauung nennt Fichte Gefühl, Leiden: ein unfreier Zu-stand. Anschauen ist - als ein Reflektieren auf das Gefühl - ein Handeln, und geschieht aus Freiheit(Kant hatte zwischen Anschauung und Sinnlichkeit noch nicht unterschie-den.)

Die Scheidelinie zwischen anschauen und denken markiert der Begriff. Und zwar geht es nicht darum, ob ich ihn 'richtig' gebrauche, so wie alle anderen in derselben Situation; sondern dass ich ihn mir vorsetze als Regel, wonach ich ihn konstruieren soll. Ich habe meine Anschauung gefasst heißt: Ich habe sie so auseinandergelegt, wie ich sie bei näch-ster Gelegenheit wieder zusammenzusetzen mir vornehme. Nun erst habe ich sie. Denn als Begriff ist er aus dem Zeitverlauf ausgeschieden, er ist 'im Raum' verfügbar geworden wie ein Rechenchip. Ich kann mit ihm operieren, ohne meine Einbildungskraft neu bemü-hen zu müssen; die vertrüge nämlich keine (Re-)Konstruktionsvorschrift

Empirisch handelt es sich wohl um den Akt der Digitalisierung. Jedoch: Die Transzenden-talphilosophie beschreibt nicht einfach, was geschieht, sondern will seinen Sinn deuten. Das ist kein bloßes Übersetzen aus der einen Sprache in die andere. Es ist - übrigens in beiden Richtungen - mehr als das.

Und nie vergessen: Wir treten in der Wissenschaftslehre aus der Vorstellung nie hinaus. Sie bleibt überall immanent, sie ist Selbstaufklärung des Vorstellens. (Aber außerhalb des Vorstellens ist nichts weiter. - Oder alles, was es gibt, gibt es in der Vorstellung und durch die Vorstellung. Was ich mir nicht vorstellen kann, kann ich mir nicht einmal vorstellen.)
11. 7. 17 

Es sieht nur so aus, als wollte ich Fichte eine Geringschätzung des Begriffs andichten. Transzendentalphilosophie ist Vernunftkritik, Kant nahm als seinen Gegenstand das ratio-nalistische Weltsystem der Leibniz-Epigonen Wolff und Baumgarten, das ein halbes Jahr-hundert lang die deutsche Philosophie beherrschte. Es war ein bloßes Begriffssystem. Al-es schien begriffen, sobald es nur definiert werden konnte. Die Begriffe waren wahrer als die Erscheinungen, in ihnen schimmerte durch, was die Dinge an sich waren.

Nach Kant war Stoff des Wissens das Erfahrene - im Begriff ist festgehalten, was die Intel-ligenz angeschaut hat. Aber die Intelligenz verfügt über Instrumente - 'Formen', in die sie die Anschauung fassen kann; Kategorien und Anschauungsweisen, das Apriori der Erfah-rung. Die Frage, woher die kommen, versagte er sich, wohl um 'dem Glauben Platz zu schaffen'. So aber standen sie nun da: nackt und bloß, selbst wieder nur als Begriffe ohne erfahrenen Stoff. 

Also war die Kritik noch nicht vollständig gewesen. Die Wissenschaftslehre führte die Kri-tik fort bis zu dem Punkt, wo das Vorstellen selbst begann. Ob sie von diesem Punkt aus das historisch gegebene System der Vernunft bündig bis zu seinem Schluss- oder besser Flucht-Punkt rekonstruiert, ist diskutabel. Doch die eventuelle Vollendung des Systems in der Vorstellung ist die eine Aufgabe der Transzendentalphilosophie. Die andere, die ihr bis in alle Ewigkeit erhalten bleibt, ist die... aktuelle Kritik des historisch gegebenen Vernunft-systems. Und die besteht, kurz gesagt, in nichts anderem als dem Vergleich der in den rea-len (Geistes- oder Natur-) Wissenschaften geltenden Begriffe mit ihren eigenen, durch transzendentale Rekonstruktion gewonnenen kritischen Begriffen. Die sind es, die in der aktuellen Auseinandersetzung mit den mehr oder minder dogmatischen Schulen ihre Rea-lität ausmachen.

14. 5. 19

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Bestimmt, unbestimmt, bestimmbar; setzen, abstrahieren.

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