Mittwoch, 21. Juni 2023

Ist das Ästhetische der Vorhof vom Wahren - oder umgekehrt?

aus scinexx                                   zu Geschmackssachen, zu Philosophierungen

Im Potsdamer Einstein-Forum war das Verhältnis von Erkenntnis und Ästhetik diskutiert worden. Ist wahr nur, was auch schön ist? Und tut der Forscher nicht gut daran, bei der Suche nach dem Wahren auch ästhetische Wege zu beschreiten? -

Das sind in Wahrheit zwei Fragen, die unmittelbar gar nicht zusammenhängen. Das eine ist, ob eine Forscher nicht gut daran tut, wenn er vor einem neuen, großen Problem zu-weilen in den ästhetischen Zustand abtaucht und die Reflexion einstweilen abschaltet - und so vielleicht zu einer Erleuchtung kommt. Ein anderer trinkt einen Kaffee oder zieht sich eine Linie. Das ist eine heuristische Frage und ist rein pragmatisch zu beantworten. 

Den Kopf freimachen und die Einbildungskraft spielen lassen wird immer nützen. Dass aktive Forscher darüber miteinander reden, ist vielleicht nützlich, aber ein irgendwie all-gemeineres theoretisches Interesse kann es nicht beanspruchen. Immerhin lehrt die Er-fahrung: Sobald die neugierige Anschauung des Forschers zur analytischen Reflexion und zu den empirischen Details übergeht, treten die Begriffe wieder in ihr Recht und ist die Schönheit regelmäßig wieder perdü - sagt nicht nur Jens Reich.

Das andere ist die erkenntnislogische und gar metaphysische Frage, ob wissenschaftliche Erkenntnis und ästhetisches Erleben letzten Endes womöglich "aus demselben Stoff ge-macht" sind.

Da muss man schon etwas weiter ausholen.



Die empirische Psychologie kennt das Faktum der Gestaltwahrnehmung. Es ist ein Phä-nomen, das sowohl dem ästhetischen Erleben als auch der Kognition angehört: dass näm-lich schon die rein sinnliche Wahrnehmung - sehen und hören - nicht aus dem Zusam-mensetzen einzelner Reize besteht, die erst vom reflektierenden Verstand zu sinnvollen Ensembles zusammengestzt werden, sondern dass umgekehrt schon das sinnliche Wahr-nehmen selbst "von sich aus" in der strukturlosen Masse der Sinnesreize nach bedeu-tungsvollen Figuren sucht, die die einzelnen Reize zueinander 'in Beziehung setzt' und dadurch eigentlich erst identifizierbar macht.

Dass unser Gehirn so verfährt, ist offenbar eine stammesgeschichtliche Erwerbung. Es besagt nur, dass unsere Gattung damit bislang immer ganz gut gefahren ist. Über die Na-tur der Dinge oder über die Wahrheit unseres Wissens lehrt es uns gar nichts.

*

Bevor wir uns in den Fallstricken unserer vorgefertigten Begriffe verheddern, dies: Von der Natur der Dinge wissen wir gar nichts und können nichts wissen. Wir wissen nur das, was in unserm Bewusstsein vorkommt - das ist eine Tautologie, beide Ausdrücke bedeu-ten dasselbe. In unserm Bewusstsein stecken aber kein Dinge, sondern nur Vorstellungen von Dingen. Allenfalls könnten wir mittelbar etwas von den Dingen wissen, sofern wir Grund zu der Annahme haben, dass den Vorstellungen in unserm Kopf etwas an oder in den Dingen außerhalb unserer Köpfe entspricht. Diese Frage also gilt es zu klären, und danach können wir an die Prüfung der Frage gehen, was wir von den Dingen wissen. Tie-fer werden wir in die Wahrheit nicht eindringen.

Wenn wir also die Dinge vorderhand nicht nach ihrem Wesen unterscheiden können, kön-nen wir sie doch beobachtend danach unterscheiden, wie sie in unser Bewusstsein hinein-kommen: "nach Schönheit" oder "nach Wahrheit"? Auch hier kommen wir mit vordefi-nierten Begriffen nicht weiter. 'Was ist Wahrheit?' fragte Pontius Pilatus, und 'Was ist Schönheit?' fragte Plato lange davor.

Schön ist nach Kant, 'was ohne Interesse gefällt'. Wenn es mehr sein sollte als technische Brauchbarkeit - wie sollte das vom Wahren nicht auch gelten? Dazu gesellt die scholasti-sche Tradition das Gute - drei Transzendentalien als drei Namen für das Absolute. Drei Namen als drei Weisen des Anschauens; wieder ist die Frage: Wie kommen sie ins Be-wusstsein?

Was wahr ist (und was nicht) wird begriffen, was schön ist (und was nicht) wird ange-schaut. Begreifen - nämlich in all seinen möglichen Bestimmungen erfassen - kann ich nur das, was ich zuvor angeschaut habe. Denn nur das ist überhaupt bestimmbar. Begreifen ist Fortschreiten vom Anschauen zum Bestimmen, doch was immer ich bestimmt habe, kann ich wieder anschauen - als ein Bestimmbares, als ein zu-Bestimmendes; und so weiter in infinitum.

Kann ich Anschauen, ohne zu begreifen? Kann ich anschauen, ohne zu bestimmen? Der moderne Mensch, das bürgerliche Subjekt des Vernunftzeitalters, lebt in einer hoch ar-beitsteiligen Gesellschaft, wo er nicht lange bestehen könnte, wäre ihm nicht das Bestim-men längst habituell geworden. Gewohnheitsmäßig neigt er zum Bestimmen, doch mit etwas gutem Willen kann er es sich auch verkneifen; aber wollen müsste er es.

Das aber wäre das ästhetische Wahrnehmen. Es ist ein Wahrnehmen, das sich des fort-schreitenden Bestimmens enthält. Jeglichen Urteils sich enthalten kann es nicht: Das wä-re überhaupt kein Wahrnehmen. Ästhetisch nenne ich ein Wahrnehmen, das als solches - ohne allen Vergleich, ohne alle Reflexion - mit einer Wertung verbunden ist: gefällt oder gefällt nicht? ("Ohne Interesse" wohlbemerkt.) 

Damit ist Schluss. Mehr an ihm kann die ästhetische Betrachtung nicht finden, sobald die danach sucht, hört sie auf, ästhetisch zu sein; beginnt sie, aus Bestimmungen weitere Be-stimmungen herzuleiten, und macht sich ans Begreifen - das aber nie an ein Ziel kommt; es gilt immer nur vorübergehend.*

*

Bis hier ist der Ertrag denkbar trivial: Der Forscher mag, wenn es in seinem Temperament liegt, wann immer er mit dem Räsonnieren nicht weiterkommt, nach einem ästhetischen Bild suchen, das ihn immerhin in irgendeine Richtung führt. Wie weit, kann er immer nur ausprobieren, und wenn er Pech hat, merkt er viel zu spät, dass er sich verrannt hat. Mit andern Worten, er ist gut beraten, wenn er seinen bildhaften Phantasien mit Ironie und trockenem Verstand begegnet. Doch irgendein Vor-Urteil braucht der empirische For-scher, denn Erfahrungen laufen einem nicht über den Weg: Man muss sie machen, indem man vorgefundene Daten mit einem Entwurf vergleicht. Da sind ästhetischen Vor-Urteile so gut wie andere; nur diesem fallen sie leichter jenem, und hinterher propagieren kann man sie besser als alles andere.

Aber es ist wie immer doch etwas vertrackter als auf den ersten Blick. Was ist denn der Sinn des Begreifens? Im Unterschied zum anschaulichen Bild lässt sich der Begriff im Gedächtnis archivieren, bei Bedarf hervorholen und - was das weltgeschichtlich Umwäl-zende an ihm war - einem Andern, der mit dem Bestimmen auch schon ein Stück voran-gekommen ist, mitteilen. (Technisch: aus dem analogen Modus in den digitalen Modus übersetzen.) Um den jeweiligen Grad der Bestimmtheit mag es immer wieder Missver-ständnisse geben, aber es ist immerhin etwas da, worüber man streiten und worüber man sich vertragen kann. Ohne ein Mindestmaß an Bestimmtheit könnte man nur miteinander handgreiflich werden.

Seit ein solches Mindestmaß an Bestimmtheit im öffentlichen Verkehr als allgemeinver-bindlich vorausgesetzt wird, redeten die Menschen von einem Vernunftzeitalter. Nicht so als solle behauptet werden, dass überall die Vernünftigen herrschen. Aber so, dass Ver-nunft allenthalben als der letztendliche Maßstab gilt.

Ein Ding bestimmen heißt am ihm Merkmale feststellen. Ein Merkmal ist das Verhältnis eines Dings zu einer möglichen Absicht (Zweck, Interesse; auch das Interesse an bloßer Erkenntnis ist ein Interesse). Bestimmungsgrund ist die Absicht, das Ding resoniert nur: Es sind erst die Merkmale, die ein Ding zu einem solchen machen. Der Begriff des Dings ist das Schema seiner Merkmale.

Etwas ins Unendliche fortbestimmen heißt: ein ums andere Merkmal an ihm finden, ali-as: eine um die andere Absicht an es heften.  

Ins Unendliche fort?

Vernunft bedeutet: an den Dingen Merkmale finden, die jeder wiedererkennt, weil er die Absichten, denen sie gelten mit allen Andern teilt oder teilen könnte. Es wird der Mo-ment kommen, wo einer, wie vernünftig er auch wäre, die Merkmale nicht wiederkennen kann, weil er die Absichten nicht mehr teilt. Das ist der Normalfall in den Wissenschaf-ten. In der scientific community werden tausende von Bestimmungen geteilt, die über den Horizont des wissenschaftlichen Laien und Normalmenschen hinausgehen, weil seine Absichten ganz woanders liegen. Und an der vordersten Front sowohl der empirischen Forschung als auch der Theorie wird Absichten gefrönt, die das Gros der Wissenschaftler nicht versteht, weil es sie nicht mehr oder noch nicht teilt. 

So ist es faktisch. Aber prinzipiell könnte jeder Vernünftige bei genügendem Eifer soweit kommen. Da sind keine Grenzen gesetzt. Die Grenzen der Anschauung wurden jedoch schon längst überschritten. Die Einstein'schen Begriffe vom Raum-Zeit-Kontinuum und von der Raumkrümmung liegen in anschaulicher Forschung gewonnene Daten zu Grun-de. Doch vorstellen kann sie sich kein Mensch. Und auch nicht jene mikrophysikalischen Quanten, die mal als Teilchen, mal als Welle erscheinen, und womöglich an zwei Orten gleichzeitig. Niemandem, der die empirischen Forschungen, die diesen Begriffen zu Grunde liegen, nicht selber durchgeführt hat, werden sie je anschaulich werden.

So ist es heute schon. Davor, dass das Bestimmen ins Unendliche fort geht, kann einem nur schwindelig werden. Übereinstimmung wird faktisch gar nicht mehr möglich sein. Es heißt bereits, an der vordersten Front gälte unter Forschern und Theoretikern, sobald das engste Hyperdetail verlassen wird, eine neue Doxa an Stelle von Wissenschaft - die darauf beruht, dass man seinem Nahbarn eben glauben muss, weil man seine Versuche in der Wirklichkeit nicht wiederholen kann. 

Das Denken wurde zu bestimmt. Wenn einer den Stein des Weisen doch einmal entdek-ken sollte, wird es nichts nützen, weil er es niemanden mehr wird mitteilen können.

*

Oder, wenn schon nicht mehr in Begriffen, doch wieder in Bildern?

Vor Jahr und Tag war viel vom Iconic turn in der Wissenschaft die Rede. Damit war mehr gemeint als bei der oben besprochenen Tagung des Einstein-Forums. Es ging um die Frage, ob die unvermeidliche sprachliche Form der Mitteilung ihrer Ergebnisse nicht zu einer Fes-sel für das Denken der Wissenschaft geworden ist.

Das war alles noch zu spekulativ und ist im Sande verlaufen. Allenfalls am Beispiel der damals in größerem Umfang zur Anwendung kommenden Hologramme fand man einen Anhaltspunkt. Aber die dienten auch nur wieder zur Illustration der begrifflichen Vorträ-ge, selber zum Denkzeug taugen sie nicht.

Ein viel weiterer Ausblick öffnet sich freilich auf der gegenüberliegenden Seite der vor-stellenden Tätigkeit, da, wo das Ästhetische, wie es sich gehört, 'um seiner selbst willen' wahrgenommen wird: in der Kunst.

'Musik sei nicht zu unbestimmt, um in Worte gefasst zu werden, hat Felix Mendelssohn gesagt, sondern zu bestimmt.

Heute würden wir sagen: Das Musikstück – und jedes Kunststück – ist über bestimmt. So sehr bestimmt, dass es durch allgemein-geltende Zeichen eben nicht sicher erfasst und vollkommen re präsentiert werden kann. Das Kunststück ist singulär. De singularibus non est scientia – Von einem Einzigen gibt es kein Wissen, sagten die Scholastiker. Das, was ganz allein auf der Welt so ist, wie es ist, das kann durch kein Anderes – Bekanntes – auf der Welt beschrieben werden. Es ist lediglich qualeschon quid wäre zu viel gesagt, weil das an ein Verhältnis zu Anderem glauben lässt.'
 [18. 2. 16]

Wie kann aber ein Gegenstand ästhetischer Anschauung 'bestimmt' worden sein? Absich-ten, Zwecke und Interessen fallen als Bestimmungsgrund aus. Welcher käme sonst in Be-tracht?

Offenbar kein Verhältnis, in das ich die Anschauung selber setzen will, sondern eines, in dem ich sie vorfinde: anschauliche Verhältnisse. Da haben wir Formate, Proportionen, Farben, Linien, Massen, Rhythmus, Hell-Dunkel-Werte, langsam-schnell und laut und leise und so weiter. Sie alle werden zusammengehalten durch ein ordnendes Prinzip: das Figur-Grund-Verhältnis. Es ist die Grundlage der Gestaltwahrnehmung, und die hat - siehe oben - mit Wahrheit und Erkenntnis nichts zu tun. Aber sie ist unsere. Sie ist die Grundlage allen Anschauens. 

Ästhetische Betrachtung ist Anschauung gegebener Verhältnisse. Sie geschieht ohne andere Absicht als eben die: Verhältnisse anzuschauen.

*


Wie ich es also drehe und wende: Ästhetik und Erkenntnis sind zwei paar Schuhe.
 

*) Das aber tut es: ganz oder gar nicht.  

22. 6. 18


Nachtrag. Ich habe da so eine Ahnung: Der Unterschied und die vielleicht elementare Unübersetzbarkeit 'westlichen' und 'östlichen' Denkens liegt eben darin, dass die Schei-dung von Bild und Begriff, Anschauen und Bestimmen hier stattgefunden hat und dort nicht. Östliche Ästhetik ist voll diskursiver und normativer Spurenelemente, die Diskurse sind von Bildern durchleuchtet. Das Bestimmen verliert sich immer irgendwann im Unge-fähr. Es fehlt, sagt der Westler, die Schärfe des Begriffs.

Ja, ist das ein Mangel? In der bildenden Kunst ist es dort nie zu einer Anschauung des Raumes gekommen - doch das macht für den Westler gerade ihren Reiz aus. In der japanischen Malerei wurde im 20. Jahrhundert immer wieder versucht, die westliche Perspektive einzuführen - und es entstand idyllischer Kitsch. Doch ohne Bestimmtheit, ohne Begriffe gibt es keine Kritik, und ohne Kritik keine Vernunft. Keine Kunst könnte das wettmachen.



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Bestimmt, unbestimmt, bestimmbar; setzen, abstrahieren.

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