Dienstag, 14. März 2023

Ein Vermächtnis zur Neubegründung der Philosophie.


Anthropologie statt Metaphysik* - das ist der Titel des letzten Werks von Ernst Tugend-hat, der gestern im Alter von 93 Jahren gestorben ist. Begonnen hatte er als begeisterter Heideggerianer, doch seine philosophische Dissertation Ti katà tinós handelte schon von der Sprache, dem Wortgebrauch nämlich des Aristoteles - "Was etwas ist" bzw. "warum etwas ist":

Nach dem Warum wird immer so gesucht, dass man fragt, warum eine Sache einer anderen zukommt. ...  Zu fragen, warum ein Ding es selbst ist, heißt nichts fragen. ... Man könnte jedoch fragen, warum der Mensch ein Lebewesen von dieser bestimmten Beschaffenheit ist. Hierbei ist nun klar, dass man nicht fragt, warum einer, der ein Mensch ist, ein Mensch ist; folglich fragt man, warum etwas etwas anderem zukommt (dass es aber zukommt, muss klar sein; denn wenn es sich nicht so verhält, fragt man nach nichts), z.B. 'warum donnert es?', 'warum entsteht ein Geräusch in den Wolken?' Auf diese Weise ist nämlich das Gesuchte etwas, das einem anderen zukommt.**

Da ist alles gegeben, was man von einem deutschen Professor erwarten kann - Philologie, Metaphysik und Geistesgeschichte. Von Heidegger zurück zu Husserl und von dort zur Sprachanalytischen Philosophie der Angelsachsen. Tugendhat war es, der die Angelsach-sen an deutschen Universitäten  mit seinen Vorlesungen zur Einführung in die sprachan-alytische Philosophie*** hoffähig gemacht hat. Wenn einer für die gegenwärtige Konfron-tation von Kontinentalen und Systematikern einstand, war er es.

Allerdings auch für deren Auflösung. Sein letztes Werk bereitet den Boden für eine Neu-begründung der Philosophie, indem er jenem Gegensatz  die Grundlage entzieht. Nicht etwa in dem Sinne, dass jene die Metaphysik ganz vormodern auf ihren Fahnen trügen, ganz im Gegenteil. Beide würden den Verdacht weit von sich weisen und die Kritik unter-laufen mit zynischer Agnostik die einen, die andern mit unbekümmertem logischen Ato-mismus.

Wahr ist leider, dass Ernst Tugendhat die erlösende Parole nur ausgegeben, aber dann zu ihrer Einlösung nichts mehr beigetragen hat.

Umso mehr bleibt uns Hinterbliebenen zu tun.

Das Feld der Philosophie in dieser weltbürgerlichen Bedeutung läßt sich auf folgende Fragen bringen
1) Was kann ich wissen?
2) Was soll ich thun
3) Was darf ich hoffen?
4) Was ist der Mensch?
Die erste Frage beantwortet die Metaphysik, die zweite die Moral, die dritte die Religion und die vierte die Anthropologie. Im Grunde könnte man aber alles dieses zur Anthropo-logie rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen.
Immanuel Kant's Logik, Akademie-Ausgabe IX, S. 25

Mit andern Worten, es wäre mit der Transzendentalphilosophie nochmal ganz von vorn anzufangen.

Na ja, ganz von vorne nicht. Ich habe schon ein bisschen vorgearbeitet.

*) München 2007
**)  Eine Untersuchung zu Struktur und Ursprung aristotelischer Grundbegriffe, Freiburg 1958.
***) Metaphysik Vll 17, 1041a10-26; Übers. Szlezak
****) Frankfurt 1976.




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